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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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viel Zeit. Also knabbern wir Kürbiskerne, trinken Cola, gucken die Neujahrsgala im Fernsehen und warten. Um zehn Uhr hat sich der Lärmpegel ungefähr auf dem Niveau eines Silvesterfeuerwerks in einer mittelgroßen deutschen Stadt eingepegelt. Und als wir endlich um kurz vor zwölf in die blitzdurchzuckte Nacht hinaustreten, um meinen Böllerkranz auszurollen, komme ich mir vor wie in einem Kriegsgebiet, so laut ist es um uns herum. Ich erlebe einen kurzen Moment der Panik, als mein Feuerzeug streikt, doch sogleich habe ich ein neues in der Hand. Ke’er lächelt: Sie und ihr Bruder sind beide Raucher. Um genau zehn Sekunden vor zwölf lege ich Feuer an die Lunte: Es zischt, die ersten von zehntausend Böllern knallen los. Dann ist es Punkt zwölf, und um uns herum bricht die Hölle los.

SCHWINDELIG
    Als ich am ersten Morgen des Rattenjahres aufwache, klingeln mir immer noch die Ohren von der Nacht. Das Feuerwerk hörte sich an wie Artilleriebeschuss, und überall gellten Autoalarmanlagen durch den Donner. Eigentlich war es toll, aber das Schlimme war, dass mein eigener Böllerkranz in dem ganzen Lärm irgendwie unterging: Er knisterte und knallte zwar eine Zeit lang vor sich hin, aber ich ging um kurz vor zwei mit der quälenden Frage zu Bett, ob er denn auch wirklich aus zehntausend Knallern bestanden hatte.
    Ein Taxi tuckert mit uns durch die dösende Stadt, und kurze Zeit später stehen wir in einer Hotelsuite voller zerknitterter Gestalten, denen man ansieht, dass sie nicht geschlafen haben. Das satte Klackern von Majiang-Steinen schallt durch den Raum, Geldscheine werden auf Tischen hin- und hergeschoben.
    Jemand bietet mir ein Bier an, doch ich schüttele den Kopf und schenke mir einen Becher Cola ein. »Leike trinkt nie Alkohol!«, verkündet Ke’er, und es klingt irgendwie, als ob das etwas ganz Tolles wäre. Die anderen sehen mich verständnislos an.
    Mit einem verlegenen Schulterzucken nehme ich einen Schluck aus meinem Becher und lasse mich auf ein Sofa fallen. Die Cola ist lauwarm und hat schon lange keine Kohlensäure mehr. Die Yang-Brüder mit ihrem Feuertopfrestaurant fallen mir ein, dort wurde die Cola heiß serviert, während es draußen kalt war und das Essen auf dem Tisch dampfte. »Es ist die Idee, die zählt«, haben die beiden damals zu mir gesagt. Wie lange ist das jetzt her?
    Mehr als eine Woche vergeht, bevor ich mich endlich dazu aufraffen kann, Yuncheng zu verlassen.
    »Morgen muss ich gehen«, verkünde ich meinen Freunden bei unserem letzten gemeinsamen Abendessen und hebe mein Glaszu einem feierlichen Toast. Ich versichere ihnen, dass es mir schwerfällt, sie und diesen Ort zu verlassen. Auf meinem Teller liegen die Schalen von mehr als einem Dutzend Garnelen, in Chilisoße gebraten, köstlich.
    Ke’er bringt mich zu meinem Hotelzimmer zurück.
    Als ich sie frage, ob sie noch kurz mit hineinkommen möchte, winkt sie lächelnd ab. »Reiß dich zusammen, und lauf, so schnell es geht, zu ihr!«, befiehlt sie mir mit erhobenem Zeigefinger. Dann nimmt sie mich in den Arm. Es fühlt sich warm an und weich. Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange, dann dreht sie sich um und geht, und ich habe das Gefühl, dass es endlich ein guter Abschied war.
    Am nächsten Tag verschlafe ich meinen Aufbruch, wie ich ihn drei Monaten zuvor in Beijing verschlafen habe. Der Himmel ist blau, mein Gepäck schwer, und ich fühle mich mindestens genauso aufgedunsen und kraftlos wie damals, an meinem sechsundzwanzigsten Geburtstag, als ich losgelaufen bin.
    Zwei qualvolle Stunden später habe ich endlich den Salzsee am Westrand der Stadt erreicht, das Wahrzeichen der Stadt. Ich bleibe stehen und blicke über die weiße Fläche hinweg. Sie sieht aus wie eine Schneelandschaft, in der ich mein Zelt aufstellen könnte. In der Ferne mache ich schwarze Punkte aus. Als ich näher komme, erkenne ich Arbeiter, die mithilfe langer, beweglicher Förderbänder Salz aus dem See holen und es zu großen Hügeln anhäufen. Ich frage mich, ob sie wissen, dass sie unter dem Schutz von Guan Yu persönlich stehen: Laut einer mehr als tausend Jahre alten Legende erschien sein Geist einst an diesem See und vertrieb einen bösen Dämon, der den Salzabbau sabotiert hatte. Zum Dank errichteten ihm die Anwohner einen Tempel – der wichtigste Schritt auf seiner Karriereleiter vom General zum Gott.
    An einer Stelle führt ein dünner Pfad über den See. Warum nicht , denke ich, und kurze Zeit später laufe ich zwischen Salzhügeln und

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