The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
trockenen Parzellen hindurch, zwischen abgestellten Fahrrädern und dampfenden Müllhaufen, und manchmal, wenn das Sonnenlicht sich auf dem weiß umkränzten Wasser bricht,schaffe ich es, mir vorzustellen, wie märchenhaft diese Landschaft einmal ausgesehen haben muss.
Vor mir liegen die Berge, die das Hochland von Shanxi nach Süden begrenzen. Sie wirken nicht besonders imposant, eher wie schneebedeckte Hügel, und ich frage mich unwillkürlich, wie es wohl sein würde, über sie hinüberzuschreiten und auf die andere Seite hinunterzublicken. Ob ich die legendären Kaiserstädte Kaifeng und Luoyang würde sehen können? Einen Moment lang bleibe ich unschlüssig stehen und drücke auf meinem GPS herum. Dabei fährt mein Finger über den Kratzer auf dem Display, und mir fällt wieder der Abstieg vom Gufeng Shan ein: die rutschigen Felsen, das Stolpern und Fallen, das hilflose Zittern während der Nacht, die Eisschuhe und schließlich der Marsch mit der Sprite-Flasche im Gepäck.
Scheiß auf die Berge , denke ich und wende mich nach Westen, dem flachen Horizont entgegen. Irgendwo dort hinten fließt der Gelbe Fluss und trennt mit seinen Wogen die Provinz Shanxi (»westlich des Berges«) von ihrer Nachbarprovinz, deren Name sich erstaunlich ähnlich anhört, nämlich Shaanxi (»westlich des Bergpasses«). Das ist verwirrend, aber wahrscheinlich ist es für einen Chinesen ganz ähnlich, wenn er mit dem Finger auf der Deutschland-Karte entlangfährt und die Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen entdeckt. Oder die Tatsache, dass es zwei große Städte gibt, die beide Frankfurt heißen, und mehr als ein Dutzend kleinerer Städte mit dem schönen Namen Neustadt.
Von Shanxi nach Shaanxi also, mit großen Schritten.
Die nächsten vier Tage wandere ich durch staubige Landschaften. Die Berge geben mir zu meiner Linken das Geleit, und vor mir entrollt sich ein Horizont nach dem anderen. Es kommen immer neue Dörfer zum Vorschein, die allesamt so verschlafen aussehen, als ob sie gerade erst nach einer Feier erwacht wären, und gewissermaßen ist es ja auch so: Das Neujahrsfest dauert hier nicht nur eine Nacht, sondern ganze zwei Wochen, und es besteht hauptsächlich darin, dass wie verrückt gegessen, getrunken und gespielt wird. Dieses »Spielen« ist ziemlich allumfassend. Das entsprechende chinesische Wort wan kann so ziemlich alles beschreiben, was Spaß macht: Kinder spielen mit einem Ball, Erwachsene spielen Karten oder Majiang, man geht ins Kino oder fährt in die Natur, steigt auf einen Berg, man geht singen oder tanzen, spielt mit der Fotokamera oder tut irgendetwas anderes, das nicht Arbeit ist, sondern Freude bereitet. Und natürlich können auch Männer und Frauen miteinander spielen.
Das Laufen in diesen Tagen ist so schön, dass man es treffend als wan bezeichnen könnte: Ich gehe los, sobald es hell wird, und mittags suche ich mir irgendwo ein kleines Nudelrestaurant. Manchmal, wenn ich keines finde, lege ich mich auch einfach unter einen Baum und esse ein paar Kekse aus meinem Gepäck. Dabei ist es mitunter so warm, dass ich auf meine Mütze verzichten kann, und einmal beobachte ich eine kleine Spinne, die an meinem Hosenbein hochklettert. Sie ist winzig – nicht größer als ein Stecknadelkopf – und sieht auch ziemlich verfroren aus, wie sie da so breitbeinig in den Stofffalten herumstakst, doch ich freue mich, sie zu sehen, denn für mich ist sie die erste Botin des Frühlings.
In der Stadt Yongji wohne ich in dem größten Kaderhotel, das ich je gesehen habe: Es besteht aus drei wuchtigen Betonklötzen mit dunkel getönten Fenstern und einem großzügigen Busparkplatz, und es wird eingerahmt von einer Art ummauertem Parkgelände, dessen Eingänge sich wie tastende Finger in die umliegenden Straßen erstrecken.
Als ich vor dem mächtigen, bewachten Eingangstor ankomme, erfasst mich für einen Moment das gleiche mulmige Gefühl wie bei meiner ersten Ankunft in China. Damals saß mir der Schock über die Beijinger Luft noch in den Gliedern, und ich kam vor dem Tor der Filmhochschule an und wusste nicht, was ich tun sollte. Was waren das für Uniformierte, die den Eingang bewachten? Ich schleppte mein Gepäck zu einem der Wächterund fragte ihn in meinem leiernden Schulbuch-Chinesisch, ob es okay sei, wenn ich jetzt das Campusgelände beträte. Ich sei als Austauschstudent dort eingeschrieben. Doch zu meiner Überraschung blickte er mich nur kurz verwirrt an und winkte mich dann eilig
Weitere Kostenlose Bücher