The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
dem Restaurant mit der Karaoke-Bühne essen, noch eine Nacht unter dem Elektrostrahler schlafen, am nächsten Tag auf der Nordseite hinunter und im Flachland außen um den Berg herumgehen?
Ich hadere noch mit dieser Frage, als meine Füße sie bereits für mich beantwortet haben; wie von selbst tragen sie mich zu der Stelle, an der mir ein Abstieg noch am ehesten möglich erscheint. Der Boden ist mit einem Geflecht aus niedrigen Dornenbüschen bedeckt, und nach ein paar Hundert Metern bin ich heilfroh, dass mir zumindest noch einer meiner Trekkingstöcke geblieben ist: Je schlechter der Weg, desto wichtiger werden alle Arten von Hilfsmitteln, mit denen man sich ein bisschen zusätzlichen Halt verschaffen kann. Egal, wie albern sie aussehen.
Der Abstieg ist nervenaufreibend, denn die Felsbrocken sind teilweise mehr als mannshoch, und sie liegen kreuz und quer übereinander, als hätte es eine Explosion oder eine Steinlawine gegeben. Einmal verliere ich das Gleichgewicht und lande mit einer halben Drehung auf einem Stück Fels. Einen Moment lang bin ich schockstarr, doch mein Rucksack hat den Fall abgebremst, und der einzige Schaden besteht anscheinend aus einem kleinen Kratzer auf dem Display des GPS. Mein Handy piept: Hab gewusst, dass es ein Berg ist, Kuhfotze! Pass auf dich auf. Dein großer Bruder Xiaohei .
Es dauert mehr als drei Stunden bis zum Fuß des Berges.
Als ich endlich unten ankomme, ist die Dämmerung bereits so weit fortgeschritten, dass die Welt eine blaue Farbe angenommen hat. Benommen vor Müdigkeit, wanke ich über ein Feld und in ein Dorf, in dem ich den vertrauten Geruch brennender Kohle wahrnehme, doch ich sehe keine Menschen, und es fehlt mir der Mut, an eines der Tore zu klopfen und um ein Nachtlager zu bitten.
Und unversehens bin ich wieder auf freiem Feld. Hinter mir liegt der Berg am Horizont wie ein stilles und friedliches Dreieck, und um mich herum ragen kahle Obstbäume aus dem Schnee. Der Boden ist wie mit Watte bedeckt, und das nächste Dorf leuchtet schwach in der Ferne. Ich schaue ein paar Wolkenfetzen dabei zu, wie sie sich sanft ineinander verweben und wieder voneinander lösen, doch innerlich weiß ich, und ich weiß es schon lange: Der Moment ist gekommen.
Eigentlich ist es nicht sehr kompliziert: den Trekkingstock in den Boden, den Rucksack daneben, die Fototaschen darauf. Das Zelt sorgfältig auf dem Boden ausgebreitet, eine Stange durch irgendwelche Schlaufen hindurchgesteckt, dann das Ganze mit den Heringen, so gut es geht, im Schnee verankert. Danach die Taschenlampe hineingehängt, die Isomatte auf den Zeltboden gelegt, den Rucksack und die Fototaschen daneben und dann erst einmal ausatmen. Das Schwierigste ist geschafft.
Während der Himmel die Schattierungen von Tiefblau bis Schwarz wechselt, trinke ich den Rest Sprite und esse noch ein paar Kekse, dann putze ich mir die Zähne und verschwinde in meinem Zelt. Gerade will ich in den Schlafsack kriechen, da fällt mir auf, dass ich etwas ungemein Wichtiges vergessen habe: die Füße waschen! Jeden Tag waschen, jeden Tag neue Socken – das ist eine der Regeln des Laufens, und es darf keine Ausnahme davon geben! Aber wie ist das heute?
Einen Moment ringe ich mit mir, doch dann gewinnt wieder das Prinzip. Zitternd und fluchend reibe ich meine Füße mitSchnee ein, besonders zwischen den Zehen, dann rubbele ich sie trocken und ziehe ein sauberes Paar Socken darüber. Dann erst darf ich in den Schlafsack, endlich.
Doch ich warte vergeblich auf die Wärme.
Zwar habe ich meine komplette Kleidung an und liege in einem übertrieben teuren Daunenschlafsack (»bis minus fünfundzwanzig Grad!«), den ich mit meinem anderen Schlafsack kombiniert habe (»noch mehr Dämmleistung!«), aber trotz allem zittere ich wie eine angeschlagene Stimmgabel. Eine Zeit lang winde ich mich hin und her, und mir wird schnell klar, dass es ein großer Fehler gewesen ist, bei der Isomatte zu geizen: Sie ist einfach zu dünn, und die Kälte kommt von unten und kriecht tief in meinen Körper hinein. Hastig stopfe ich alle Gegenstände, die nicht kaputtgehen können, zur Kältedämmung unter meine Isomatte, doch auch das hilft nicht viel. Es bleibt furchtbar.
Das Schlimme ist, dass ich so viel Sprite getrunken habe! Soll ich jetzt wirklich in meinen Badelatschen in die Kälte da draußen kriechen? Ich ziehe den Reißverschluss am Zelteingang auf, um die Lage zu sondieren. Richtig, da stehen meine Schuhe, und auf ihrem Innenfutter hat sich bereits
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