The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
durch, ohne meine Papiere überhaupt anzusehen. Es dauerte damals eine Zeit lang, bis ich begriffen hatte, dass die Wachmänner, die jedes Tor und jede Einfahrt in China bewachen, beinahe ausnahmslos junge Männer sind, deren einzige Qualifikation darin besteht, dass sie eine gewisse Körpergröße überschreiten – und dass sie bereit sind, sich für wenig Geld irgendwo die Beine in den Bauch zu stehen.
Und so ist es auch hier: Ich winke salopp, und die beiden Wachmänner winken zurück, ich grinse, und sie grinsen. Und schon bin ich drin. In dem gewaltigen Betonklotz, der heute als Hotel für jedermann zugänglich ist.
Nach einer Nacht hinter den Mauern des Kaderhotels fühle ich mich erfrischt genug, um meinen Weg fortzusetzen. Nur einmal bleibe ich stehen, als ich ein Kampfflugzeug erblicke, auf dem eine Gruppe Kinder herumhüpft. Es handelt sich um eine einstrahlige Shenyang, den einstigen Stolz der chinesischen Luftwaffe, und das Spiel der Kinder besteht offensichtlich darin, von einer Tragfläche auf die andere zu hüpfen und sich dabei kreischend um den Sitz in der Pilotenkanzel zu streiten. Es sieht unterhaltsam aus, und sie machen es wahrscheinlich nicht zum ersten Mal, denn die gesamte Oberseite des Flugzeugs glänzt so hell und speckig, als würde sie jeden Tag von den Schuhen, den Händen und den Hosen der Kinder poliert.
Es dauert nicht lange, und ich erreiche die Pagode des Wangu-Tempels. Sie steht dort, wo die Berge aufhören und die Marschen des Gelben Flusses beginnen, und sie sieht ein bisschen schief aus.
Ich muss einen kleinen Abhang erklimmen, dann befinde ich mich zu meiner Überraschung in einem Bambushain. Die Halme sind hellgrün und legen sich über mir zu einem luftigenDach zusammen. Wäre der Schnee auf dem Boden nicht, ich fühlte mich zurückversetzt in den Süden, in Julis Heimatprovinz Sichuan, wo die Luft feuchtwarm ist und es immer ein bisschen nach Essen duftet. Wusstest du, dass Bambus auch im Norden wachsen kann? , schicke ich als SMS an Juli, doch es ist noch zu früh, um eine Antwort zu erwarten. Sie schläft sicher noch.
Vor dem Eingang der Pagode steht eine Gruppe Jugendlicher und diskutiert den Eintrittspreis. Die Ticketverkäuferin sieht gelangweilt aus. Über ihr hängt ein Preisschild: zwei Yuan pro Person. Als ich näher komme, kichern einige der Mädchen verschämt. Sie sehen aus, als wären sie ungefähr achtzehn, und sie haben sich ganz offensichtlich für diesen Ausflug schick gemacht. Ob das eine Art Gruppendate ist? Ich krame ein paar Geldscheine hervor und lege sie auf das Pult. Die Ticketverkäuferin hebt einen Finger und will schon das Geld für ein Ticket abzählen, doch ich schüttele den Kopf und deute auf die Gruppe hinter mir: »Die gehören zu mir.«
Wenige Minuten später sitze ich verängstigt auf einem Vorsprung in dreißig Meter Höhe und frage mich, wie ich bloß hierhergelangt bin. Ich wage nicht, direkt nach unten zu schauen, sondern starre stattdessen die Wand an, die über und über mit eingeritzten Liebesschwüren bedeckt ist.
»Dort musst du hin, großer Bruder Lei«, sagt das Mädchen neben mir, und ihre Augen leuchten, als sie auf den Horizont im Westen zeigt, an dem sich Himmel und Erde im Dunst vermischen. »Dort hinten liegt der Gelbe Fluss, und an seinem anderen Ufer ist die Provinz Shaanxi.« Ich versuche etwas zu erkennen, doch plötzlich kreischen ein paar Mädchen begeistert, und ich werde abgelenkt: Zwei Jungen sind aufgestanden und stolzieren auf dem Sims herum, als wäre nicht direkt neben ihnen ein dreißig Meter tiefer Abgrund.
Mir wird flau. Ich kralle meine Finger in die Kante der Stufe. Es gelingt mir noch einige Minuten, notdürftig den Schein zu wahren, dann entschuldige ich mich damit, dass ich heute noch wandern müsse, und krieche wieder ins Innere der Pagode zurück.
Als ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen habe, treffe ich auf einen rot gewandeten Mönch und frage ihn, ob von da oben eigentlich noch nie jemand abgestürzt ist. Er legt die Hände in den langen Ärmeln vor der Brust zusammen und schüttelt lächelnd den Kopf. »Der Buddha beschützt uns!«
Der Weg hinab ins Tal ist friedlich. Ich komme durch Dörfer, die von Gänsegeschnatter und Hundegebell und vom Duft der brennenden Kohleöfen erfüllt sind. Einmal drehe ich mich um und sehe die Pagode wie ein Streichholz in der Ferne aufragen. Von hier aus sieht sie überhaupt nicht sehr hoch aus, eher wieder ein bisschen schief, und es ist eine
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