The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
komische Vorstellung, dass ich jetzt ein Teil jenes dunstigen Horizontes geworden bin, den ich eben von dort oben aus betrachtet habe. Ich kneife die Augen zusammen: Sind das wirklich Menschen, die ich da oben erkennen kann? Sind das die Jugendlichen? Ich hebe die Hand zu einem Winken, obwohl sie mich nicht sehen können. Hoffentlich beschützt der Buddha sie wirklich.
VIER SCHÖNHEITEN
Bei meiner Heimatstadt Bad Nenndorf in Norddeutschland fließt ein kleiner Fluss, die Aue. Sie ist knapp dreißig Kilometer lang und selten mehr als zwei Meter breit. An einer Stelle unweit des Waldes überspült sie einen niedrigen Wassersturz und landet gurgelnd in einem Becken, das Kolk genannt wird. Im Sommer spielen die Kinder dort, indem sie auf dem Wassersturz hin- und herlaufen, Kaulquappen und Stichlinge fangen und überall kleine Dämme aus Steinen errichten. Einmal, ich mag etwa zwölf Jahre alt gewesen sein, rutschte ich aus und landete mitsamt meiner Kleidung im Wasser. Einen Moment lang war ich erschrocken, doch dann ließ ich mich einfach mit der Strömung treiben und sah dem Ufer dabei zu, wie es gemächlich in immer neuen grünen Schattierungen an mir vorbeizog. Und während ich so in der Aue trieb, fragte ich mich, wo ich wohl herauskäme, wenn ich einfach nie wieder an Land gehen würde.
Der Gelbe Fluss ist deutlich größer als die Aue. Fünftausend Kilometer ist er lang und an den meisten Stellen mehrere Hundert Meter breit. Wenn man sich in ihm treiben lassen würde, wäre man irgendwann ein Matschmonster, denn er ist so angefüllt mit Sedimenten, dass man es sich kaum vorstellen kann. Es müssen ganze Sandstrände sein, die er da Bröckchen für Bröckchen aus dem Lössboden reißt, um sie in seinem Flussbett abzulagern, bis er schließlich irgendwann überläuft und sich in einer seiner kolossalen Überschwemmungen einen neuen Verlauf suchen muss. Diese Katastrophen gehören zu den am meisten gefürchteten Ereignissen der chinesischen Geschichte, und in der Vergangenheit entvölkerten sie im Schnitt einmal pro Jahrhundert ganze Landstriche.
Aber eine Sache kommt mir komisch vor: Wenn der Gelbe Fluss wirklich so riesig ist, warum ist es dann so schwer, ihn zu finden? Dort, wo ich laut meinem GPS bereits mitten im Wasser stehen müsste, sehe ich in Wirklichkeit nur eine anscheinend grenzenlose braune Matschfläche, die von der Straße durch einen Deich abgetrennt wird. Sie ist spärlich bewachsen, und es dauert ein bisschen, bis mir klar wird, dass sie wahrscheinlich dazu da ist, die Wassermassen aufzufangen, falls dem Fluss wieder einmal der Sinn nach einer Überschwemmung stehen sollte.
Irgendwann wird es mir im Matsch zu langweilig, und ich mache einen Abstecher in die Berge, um den Geburtsort der kaiserlichen Konkubine Yang Guifei zu besuchen. Das Museumsgelände ist zwar eher uninteressant, aber ich finde es trotzdem eine romantische Vorstellung, dass eine der legendären »Vier Schönheiten« in dieser Gegend aufgewachsen sein soll. Die VierSchönheiten – das ist das Quartett der offiziell schönsten Frauen der gesamten chinesischen Geschichte. Die Chinesen haben nämlich schon immer leidenschaftlich gern kanonisiert: So gibt es die Drei Reiche und die Vier Bücher, die Fünf Klassiker und die Sechs Künste, die Sieben Streitenden Reiche, die Acht Regionalen Küchen und die Neun Söhne des Drachen. Und es gibt die Vier Schönheiten – Frauen, die der Überlieferung nach so umwerfend aussahen, dass bei ihrem Anblick die Fische versanken und die Vögel vom Himmel fielen, dass der Mond sich schüchtern hinter den Wolken verbarg und die Blumen vor Scham ihre Köpfe senkten. Yang Guifei, die eigentlich Yuhuan – »Jadereif« – hieß, war eine dieser vier.
Sie lebte im frühen achten Jahrhundert, zur Zeit der Herrschaft der Tang. Diese Dynastie war auf die beiden Sui-Kaiser gefolgt und hatte eine der prächtigsten Blütezeiten der chinesischen Geschichte eingeläutet: Unter den Tang dehnte sich das Reich bis nach Zentralasien aus, die buddhistische Lehre und die Kunst florierten, und die Dichter schufen Zehntausende unsterblicher Werke. Noch heute kennt jeder Chinese zumindest einige dieser Gedichte auswendig, und die Tang werden auch respektvoll Datang genannt – »Große Tang«. Damals residierte der Kaiserhof in Chang’an, dem heutigen Xi’an, und dort, in einem hinteren Teil des Palastes, wartete Anfang des achten Jahrhunderts einer der Prinzen auf eine neue Gespielin.
Ich streife durch die
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