The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
menschenleeren Anlagen, die aufgrund ihrer Höhenlage ein bisschen wie Bergtempel anmuten, und während ich in die braunen Marschen des Gelben Flusses hinabblicke, versuche ich mir vorzustellen, wie sich die sechzehnjährige Yang Yuhuan wohl gefühlt haben mag, als sie erfuhr, dass der Kaiserhof nach ihr verlangte.
Zweihundert Kilometer sind es von hier bis nach Xi’an. Das waren ungefähr eine Viertelmillion Schritte, die ihre Eskorte hinter sich bringen musste: zuerst über den Gelben Fluss, dann zum heiligen Berg Hua, am Grabhügel des Ersten Kaisers vorbei und zu den heißen Quellen von Huaqing. Von dort aus war esdann nicht mehr weit zu den mächtigen Stadttoren, zum Gedränge der Märkte und zum Palast mit seinen prunkvollen Gärten und seinen politischen Ränkespielen.
Ob das junge Mädchen etwas Bedrohliches ahnte, als es von hier aus nach Westen blickte?
Zwei Tage später erreiche ich den Gelben Fluss. Bei dem Ort Fenglingdu, der »Furt am windigen Hügel«, steht eine Betonbrücke. Sie ist so lang, dass ich ihr jenseitiges Ende im Morgennebel nicht erkennen kann, und ich bleibe erst einmal stehen und atme tief ein. Irgendwo unter mir rauscht der Fluss. Wie lange habe ich mich schon auf diesen Moment gefreut!
Es ist jedoch nicht so, dass ich ihn von der Brücke aus sofort zu Gesicht bekomme. Zunächst ist da nur wieder die altbekannte matschig braune Fläche, nur ist sie diesmal durchzogen von langen Reihen dürrer Obstbäume. Es muss lange her sein, dass das Wasser hier das letzte Mal über die Ufer getreten ist , denke ich, und ich bin mir nicht sicher, ob dies auf die erfolgreichen Eindämmungsmaßnahmen der Regierung oder auf die Austrocknung zurückzuführen ist, mit der der Fluss seit einigen Jahrzehnten zu kämpfen hat.
Dann endlich taucht er unter mir auf, und mit Erleichterung stelle ich fest, dass er immer noch deutlich größer ist als die Bad Nenndorfer Aue. Er ist Hunderte von Metern breit. Ich lehne mich ans Geländer, stütze die Arme darauf ab und blicke den ockerfarbenen Wassermassen hinterher, die sich gurgelnd unter mir entlangwälzen. Es ist beeindruckend, und doch: An vielen Stellen sind wirbelnde Untiefen und Schlamminseln zu erkennen, wo der Fluss zu schwach ist, um seine Sedimente mit sich zu reißen. Ich bleibe eine Weile stehen und höre dem Rauschen des Wassers zu, und mir fällt ein Spruch von Mao Zedong ein. »Den Gelben Fluss verachten heißt, unser Volk zu verachten«, soll er einmal gesagt haben, und mir war nie klar, was genau er damit gemeint haben könnte. Als ich Juli gestern am Telefon danach fragte, lachte sie nur. »Was soll er schon gemeint haben?Der alte Mao hat viel geredet, wenn der Tag lang war, und ich bin mir fast sicher, es gibt einen ähnlichen Spruch von ihm auch für den Langen Strom oder für irgendeinen Berg!«
Ein heranrumpelnder Lkw lässt die Brücke vibrieren und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich gehe ein paar Schritte weiter. Dort drüben am anderen Ufer, wo ein paar kleinere Schiffe im Schlamm feststecken, liegt die Provinz Shaanxi. Ich blicke auf die Uhr: Es ist zwölf. Wenn ich zügig gehe, kann ich vielleicht noch heute den Fuß des Huashan – des Berges Hua – erreichen. Von dort bis zur Terrakotta-Armee ist es nicht mehr weit. Und die Kaiserstadt Xi’an ist dann nur noch einen Katzensprung entfernt.
Shaanxi sieht auch nicht anders aus als Shanxi. Nachdem ich die andere Brückenseite erreicht habe, winde ich mich durch ein Gewirr von Fahrzeugen. Ein paar Opas, die in dicken Winterjacken vor einem Laden herumsitzen, blicken mir überrascht hinterher. Ich folge einer staubigen Straße nach Westen und mache erst wieder halt, als aus dem Dunst eine Eisenbahnbrücke auftaucht. Ihre langen Stelzen verschwinden in der Ferne und scheinen bis nach Beijing zu führen. Ob ich auch dort oben hinübergefahren bin, als ich einmal mit dem Zug nach Westen unterwegs war? Wie lange ist das jetzt her, zwei Jahre?
Die Fahrt von Beijing nach Xi’an war damals ziemlich anstrengend: Sie dauerte zwar nur zwanzig Stunden, doch weil ich in der Hauptreisezeit unterwegs war und keinen Sitzplatz bekommen hatte, bedeutete das für mich zwanzig Stunden Lehnen und Kauern zwischen schweißnassen Leibern und Gepäckstücken. Es war entsetzlich. Doch dann, kurz nach Einbruch der Nacht, als die Mütter gerade ihre Kinder auf Zeitungsblättern unter den Sitzen zur Nacht gebettet hatten, ertönte auf einmal ein Lied aus den Lautsprechern. Es war »Der Mond steht für
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