The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Zwanzigerschritten zu zählen, ist gescheitert, und ich frage mich, ob es überhaupt möglich ist, bis zu der Zahl Tausend zu zählen. Außerdem habe ich Hunger. Bei einer über und über mit eingeritzten Namen verzierten Wand lasse ich mich zu Boden fallen und spüle im Licht meiner Stirnlampe ein Schokomuffin mit etwas Orangensaft hinunter. Es ist kurz vor drei, und um sieben geht die Sonne auf. Noch vier Stunden unter den Sternen. Sie funkeln wie kleine Discokugeln.
Ich klicke mich durch mein Handy und suche nach passender Musik für den Aufstieg: Punk? Zu laut. Klassik? Zu erhaben. Bei Achtziger-Hiphop verharre ich für einen Moment, doch dann fällt mir etwas Besseres ein: Disco! Ich stecke die Kopfhörer in die Ohren und wähle »Get Down On It«, und als wenig später »Shake Your Booty« erklingt, singe ich bereits laut mit, tänzele durch die Dunkelheit und genieße die Nacht auf meinem Berg.
Doch ich bin nicht allein. Nach einer Weile stoße ich in der Dunkelheit auf andere Leute und beginne sie zu überholen. Das Pärchen, das vor der Steiltreppe eine Pause einlegt? Überholt. Die Gruppe kichernder Studenten, die mir einen Gruß auf Englisch hinterherrufen? Überholt. Die Rentner in den bunten Outdoorjacken? Weit, weit hinter mir. Ich bin wie ein singender Blitz, und das Beste ist: Da ich meinen riesigen Rucksack nicht dabeihabe, werde ich noch nicht einmal müde.
Doch dann gerate ich an vier junge Männer, die sich offenbar nicht so einfach von mir überholen lassen wollen. In einer Kurve gelingt es mir, ein Manöver zu starten, doch nachdem ich michgerade an die Spitze gesetzt habe, taucht der Erste der vier wieder vor mir auf. Und dann der Zweite. Überrascht drehe ich mich um und sehe die beiden anderen, sie sind dicht hinter mir, und sie sehen entschlossen aus. Moment , denke ich, wozu denn jetzt ein Wettlaufen daraus machen? Ist nicht eigentlich der Weg das Ziel?
Die beiden ziehen an mir vorbei. Ich schalte meine Musik aus und höre das Keuchen ihrer und meiner Atemzüge, und irgendwie weiß ich, ich habe die Herausforderung angenommen. Es ist stockfinster, der Weg ist glatt und gewunden, und hier oben tobt ein Wettstreit um die Ehre.
Nach etwa einer halben Stunde kommen wir zu einer Stelle, an der zwei Steiltreppen genau nebeneinander nach oben führen. Die anderen klettern die rechte empor, also entscheide ich mich für die linke. Immer mehrere Stufen auf einmal nehmend und mit einer Hand an dem eisigen Geländer, sprinte ich nach oben. Meine Kamerataschen und das Stativ schlagen mir gegen den Körper, aber das ist mir jetzt egal. Ich will Erster werden.
Und tatsächlich ist niemand vor mir, als ich die Stelle erreiche, wo die beiden Treppen sich wieder auf dem Weg vereinigen. Ich kann überraschte Rufe hinter mir hören. Oder sind sie empört? Ich kichere in mich hinein, doch es bleibt keine Zeit, um den Triumph auszukosten, denn der Gipfel ist nah und mein Vorsprung knapp.
Je höher wir kommen, desto mehr Eis ist überall. Der Weg schlängelt sich über Felsen und führt unter Bäumen hindurch und an Pavillons vorbei. Die Führung geht mal an den einen, dann wieder an den anderen, eine Zeit lang habe ich sie, und dann verliere ich sie wieder. Ich schwitze, ich atme schwer, und dann passiert es: Auf einem schrägen Eisstück verliere ich den Halt und gerate ins Rutschen. Ich bekomme einen Ast zu fassen und zappele einen Moment lang hilflos auf dem Eis herum. Und schon steht einer der anderen über mir. Er ist der Schnellste der vier, im Licht meiner Stirnlampe kann ich sein kantiges Gesicht und seine Brille sehen. Er streckt die Hand aus, um mir zu helfen.
Als wir am Gipfel ankommen, bin ich nicht der Erste, doch das ist mir nicht mehr so wichtig. Wir müssen eng hintereinander gehen, um uns gegenseitig über glatte Stellen hinweghelfen zu können, und es gibt kein Gerede und auch kein Gedrängel. Und dann ist da plötzlich ein schräger Felsvorsprung. Er wird durch eine Eisenkette begrenzt, und hinter seinem Rand fällt das Licht unserer Lampen in gähnende Schwärze. Wir sind auf dem Ostgipfel.
Ich halte mich an der Kette fest. Sie ist über und über mit goldenen Schlössern behängt, in die Verliebte ihre Namen eingeritzt haben. Jedes von ihnen ist ein kleiner Schwur für die Ewigkeit. Hätte ich auch eines mitbringen sollen? Mein Blick fällt auf das GPS: fünf Uhr. Noch zwei Stunden bis zum Sonnenaufgang. Ich fühle den Schweiß auf meiner Stirn kalt werden, und ein heftiger Wind
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