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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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mein Herz« von Deng Lijun, einer taiwanischen Sängerin, deren Musik in China lange Zeit verpönt und sogar verboten war. »Du fragst mich, wie tief meine Liebe zu dir ist«, hauchte ihre Stimmesanft durch den Zug, und ein paar Geigen zirpten. Dann beantwortete sie ihre Frage selbst. »Nur ein leichter Kuss hat ausgereicht, um mein Herz erbeben zu lassen …«
    Da fiel mir das Summen auf. Ich blickte mich um und sah, dass die meisten Fahrgäste leise mitsangen. Egal, ob sitzend oder stehend, ob ich das Pärchen neben mir anschaute, den Familienvater an der Zugtür oder die alte Dame, die einen Sitzplatz hatte und ihre Handtasche auf dem Schoß umklammert hielt – fast alle formten sie mit den Lippen die Worte zu dem Lied und blickten verträumt vor sich hin. Und während der Zug durch die warme Sommernacht rollte und die Leute sangen, stellte ich mit einem seltsamen Gefühl in der Brust fest, dass ich anscheinend dabei war, mich in ein ganzes Land zu verlieben.

DAS RENNEN
    Der Huashan ragt aus der Dunkelheit über mir auf, und er ist so schwarz, dass ich ihn kaum erkennen kann. Es ist kurz nach Mitternacht, die Stadt schläft, ihre Lichter sind fast alle gelöscht. Das Gepäck habe ich im Hotelzimmer liegen lassen, nur das GPS, die Kameras und das Stativ sind bei mir. Und natürlich ein paar Kekse und Wasserflaschen. Die Verkäuferin in dem kleinen Kiosk sieht mich prüfend an und warnt: Es sei kalt und glatt auf dem Berg, ich solle vorsichtig sein.
    Als ich an einem Tor ankomme, stelle ich überrascht fest, dass selbst um diese Zeit noch Eintritt verlangt wird. In China muss man zwar für touristisch erschlossene Berge normalerweise immer bezahlen, aber ich hätte trotzdem nicht gedacht, dass die Ticketabreißer auch in der Nacht noch arbeiten müssen. Ob außer mir noch andere Leute unterwegs nach oben sind?
    Ich klopfe an die Glasscheibe des Ticketschalters. Eine Weilepassiert nichts, dann erscheint eine schlaftrunkene Person im Neonlicht. Vierzig Yuan. Ich schiebe ein paar Scheine über den Tresen und bekomme ein buntes Ticket und etwas Wechselgeld zurück. Dann werde ich zu einem mächtigen Metallgitter geschickt, vor dem ein Wachmann steht. Er reißt das Ticket ab, hantiert kurz mit einem Schlüssel herum und bedeutet mir einzutreten. Eine grüne Lampe erhellt den Weg. Ich mache ein paar Schritte in ihren Lichtkegel hinein, während sich das Tor quietschend hinter mir schließt. Dann wird es still, und ich höre, wie sich der Wachmann mit leisen Schritten wieder entfernt. Die Frau vom Kiosk hatte recht: Es ist kalt, selbst hier unten. Vor mir in der Dunkelheit kann ich ein paar Stufen erkennen, und ich weiß, das sind nur die ersten von Tausenden und Abertausenden.
    Ich nehme mir vor, sie alle zu zählen.
    Eigentlich ist der Huashan mit seinen etwas über zweitausend Metern kein besonders hoher oder eindrucksvoller Berg. Aber im Daoismus gilt er dennoch als einer der wichtigsten Orte im ganzen Land, denn er ist Teil der sogenannten Wuyue, der »Fünf Gipfel«. Damit sind fünf Gebirge gemeint, die im Osten, Westen, Süden, Norden und in der Mitte des Reiches liegen und so etwas wie die Eckpunkte der alten chinesischen Welt darstellen. Dichter haben sie besungen, Mönche sind auf ihre Gipfel gestiegen, und heute wälzen sich jedes Jahr ganze Ströme von Touristen über sie hinweg.
    Der Huashan ist der westliche dieser fünf. Auf dem östlichen, dem Tai Shan, war ich vor fast einem Jahr mit Juli. Damals war sie gerade für ihr Studium nach München gezogen, und ich blieb in Beijing mit der Gewissheit zurück, dass es nicht klappen würde. Wir waren ja nicht einmal richtig zusammen.
    Doch dann, an einem Frühlingstag, stand sie plötzlich wieder vor meiner Tür. Sie trug ihr geblümtes Kleid und strahlte ihr Juli-Lächeln, und sie verkündete mir, wir hätten eine Woche Zeit.
    In Beijing waren die Schmähworte in meinem Treppenhaus noch zu frisch, um dort zu bleiben. Also setzten wir uns in einenZug und fuhren fort aus der Stadt, in die Seeprovinz Shandong. Wir besuchten das Grab des Konfuzius und die ehemalige deutsche Kolonie Qingdao, und wir stiegen auf den Tai Shan. Und dort, auf dem Gipfel, während das Wolkenmeer unter uns von der Abendsonne in Flammen gesetzt wurde, wurde mir klar, dass es nicht einfach werden würde, Juli wieder gehen zu lassen und meinen Plan vom Laufen in die Tat umzusetzen.
    Sind es jetzt vierhundertachtundsechzig Stufen? Oder vierhundertachtundachtzig? Mein Versuch, immer nur in

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