The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
fährt zwischen uns, als hätte er nur auf uns gewartet. Krümmen und Drehen bringt nichts, es gibt kein Entkommen vor der kalten Faust des Winters.
»Wo cao!« , entfährt es mir, ein chinesischer Kraftausdruck, der so viel wie das englische »fuck« bedeutet. Die anderen blicken mich überrascht an. Es sind die ersten Worte, die bis jetzt überhaupt zwischen uns gefallen sind.
Die nächsten anderthalb Stunden sind geradezu erbärmlich. Wir haben uns an der windabgewandten Seite einer kleinen Holzhütte unterhalb des Gipfels zusammengekauert und unterhalten uns, so gut es eben geht.
»Warum musstet ihr auch so schnell laufen?«, frage ich vorwurfsvoll und puste etwas warme Atemluft in meine Handschuhe.
»Wir?« Der Kantige lacht: »Wir sind eigentlich in ganz normalem Tempo hochgestiegen, aber dann musste ja unbedingt ein Ausländer kommen und versuchen, uns zu überholen!«
Als Erklärung berichte ich ihnen in ein paar Sätzen von meiner Wanderung.
»Aber auf unserem Berg konnten wir dich nicht so einfachüberholen lassen.«
»Und warum nicht?«
»Weil wir auf Heimaturlaub sind.« Hinter seinen Brillengläsern blitzt es stolz. »Von der Luftwaffe.«
Um halb sieben erreichen die ersten der anderen Wanderer den Gipfel. Es sind komischerweise die Rentner. Sie grüßen freundlich, nehmen auf ihren mitgebrachten Decken Platz und kramen Thermosflaschen hervor, aus denen es verheißungsvoll dampft. Kurz darauf kommt der Pulk der Studenten, dann tröpfeln die restlichen Leute ein. Und während ihr Lachen und Lärmen über unseren Platz auf dem Gipfel schallt, fühlen wir uns mehr und mehr wie die zitternden Opfer unseres eigenen Ehrgeizes.
Doch der Sonnenaufgang entschädigt für alles: Zuerst erscheint ein leuchtender Streifen am Horizont, dann ein Glühen auf den Bergspitzen. Die Dunkelheit zieht sich zurück, ein Fächer aus Rot und Orange breitet sich aus. Gebannt starren wir in die Ferne, bis sich endlich die gleißende Scheibe der Sonne emporschiebt und alles mit ihrem Licht überflutet. »Oh!«, ruft eine Frauenstimme entzückt, und die Soldaten und ich lachen einander an, denn wir freuen uns nicht nur über den Anblick der Sonne, sondern vor allem über ihre Wärme.
GROLLEN
Das Telefon klingelt, es ist hell, die Uhr zeigt kurz vor elf. Habe ich wirklich so lange geschlafen? Leicht desorientiert greife ich zum Hörer und erfahre, dass mein Zimmer in einer halben Stunde geräumt sein muss. Sonst wird mir ein halber Tag zusätzlich berechnet. Ich bedanke mich und erkläre, dass ich zehn Minuten länger brauchen werde.
Um halb zwölf klingelt das Telefon abermals. Ich hätte nocheine Minute Zeit. Lachend lege ich auf.
Als ich in der Eingangshalle ankomme, teilt mir die Rezeptionistin mit, dass ich zu spät sei.
Ja, sage ich, aber doch nur ein paar Minuten!
Hitzige Worte fliegen hin und her, und schließlich winkt sie genervt ab. Sie schiebt mir eine Quittung und ein paar Scheine über den Tisch. Tatsächlich: sechzig Yuan. Mir wurde ein halber Tag Miete berechnet, für noch nicht einmal zehn Minuten.
Wütend verlange ich nach einem Verantwortlichen.
Eine Dame erscheint, stellt sich als Managerin vor und erklärt mit steinerner Mine, die Regeln seien leider nicht veränderbar. Sie würden sich jedoch auf meinen nächsten Besuch freuen.
Alles Weitere geschieht wie im Traum.
Meine Hand ballt sich um die Geldscheine zusammen. »Nehmt doch die andere Hälfte auch noch!«, rufe ich und schleudere sie den beiden Frauen ins Gesicht. Ein Regen aus blauem und grünem Papier geht über ihnen nieder.
Im Innenhof brülle ich etwas von Betrug und Ungerechtigkeit. Der Schall meiner Stimme bricht sich an der Wand, eine Putzfrau schaut interessiert hinter mir her.
Das Hotel hat ein angeschlossenes Restaurant.
Als die Tür auffliegt, blicke ich in Hunderte von Gesichtern. Es ist eine Hochzeitsgesellschaft. Einen Moment lang bleibe ich irritiert stehen, dann hebe ich die Hände und verkünde: »Tut mir leid, ich wollte Ihnen meine Glückwünsche ausrichten, aber an diesem Ort werden Gäste schlecht behandelt!«
Umgehend schieben mich zwei Wärter nach draußen.
Auf dem Bürgersteig vor der Hoteleinfahrt bildet sich eine Menschentraube um mich. Ich überrage die Leute um Haupteslänge, und das ist gut so, denn so können sie besser sehen, wie ich vor Wut schäume. Und sie lieben es. Sie geben Kommentare ab, studieren meine Mimik, zeigen mit dem Finger auf mich. Die Sonne brennt mir in den Augen. Eine hutzelige Oma
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