Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
Vom Netzwerk:
schält sich aus der Menge und fragt, warum ich nicht zur Polizei ginge. Oder zur Regierung.
    Zur Regierung?
    Der Weg dorthin dauert zwanzig Minuten. Als ich mit wichtiger Miene durch das Eingangstor schreite, nehme ich ein Schild über mir wahr: FRÖHLICHES FRÜHLINGSFEST, steht da in roten Schriftzeichen, und für einen winzigen Moment fällt mir ein, dass ich eigentlich schon längst wieder unterwegs sein wollte. Die Terrakotta-Armee ist doch gar nicht mehr weit.
    Das Gebäude wirkt verlassen, ein Pförtner bittet mich zu warten. Ich kaue an meinen Fingernägeln und wundere mich, wohin meine Wut verschwunden ist. Ich bin anscheinend nur noch hier, um zu beenden, was ich angefangen habe.
    Ein grauer Mann führt mich in einen grauen Raum. Ich berichte ihm in überaus höflichem Ton von den Widerwärtigkeiten, die mir widerfahren sind. Er hört sich alles an, zieht an seiner Zigarette und macht ein ernstes Gesicht. Ab und zu nickt er. Als ich fertig bin, tätigt er ein paar Anrufe. Dann fragt er, ob ich bereit sei, den Besitzer des Hotels zu treffen.
    »Aber wozu das denn?«, ruft Juli voller Empörung. »Die hatten dir doch gar nichts getan!«
    Die Sonne scheint. Es ist später Nachmittag, und die Stadt liegt bereits mehrere Kilometer hinter mir.
    »Der Hotelbesitzer kam tatsächlich«, fahre ich fort, »das war so ein dicker Typ im Anzug. Der hat sich die ganze Zeit schwitzend entschuldigt und wollte mir am Ende einen Stapel Geldscheine geben. Ich habe ihn aber nicht angenommen. Und weißt du, warum?«
    »Weil du wusstest, dass du unrecht hattest?« Julis Stimme hat einen scharfen Klang.
    »Nein, weil es mir doch gar nicht um das Geld ging, sondern darum, dass die Leute für ihr Verhalten bestraft werden sollten. Und das habe ich ihm auch gesagt!«
    Ich versuche, ansteckend zu lachen, doch in der Leitung bleibt es still.
    »Bist du noch da?«, frage ich nach einer Weile.
    »Shabi!« , kommt als Antwort.
    Shabi bedeutet »dumme Fotze«, und wenn man jetzt denkt, das sei ähnlich wie Niubi und bedeute wahrscheinlich etwas Tolles, dann hat man sich getäuscht: Anders als die »Kuhfotze«, die etwas Positives bedeutet, ist die »dumme Fotze« eine der schlimmsten Beleidigungen, die man überhaupt zu jemandem sagen kann. Taxifahrer in Beijing benutzen dieses Schimpfwort häufig.
    Und Juli lässt ein wahres Gewitter über mir niedergehen: Die armen Leute von dem Hotel seien völlig im Recht gewesen. Zweimal hätten sie mich auf die Uhrzeit hingewiesen, zweimal. Und nur weil ich ein Ausländer sei, heiße das doch noch lange nicht, dass ich einfach machen könne, was ich wolle. Und überhaupt: Was sei eigentlich aus dem berühmten Plan geworden, so schnell wie möglich nach Hause zu laufen? Ich würde ja anscheinend mehr mit Leuten herumstreiten als laufen.
    Und während sie schimpft und schimpft und schimpft, wie überhaupt nur Pfeffermädchen aus Sichuan schimpfen können, ahne ich, dass sie eigentlich recht hat: Ich bin immer noch genauso jähzornig wie früher. Drei Monate unterwegs, und nichts hat sich geändert.
    Und noch etwas fällt mir ein: Wenn ich in Xi’an angekommen bin, muss ich einen Flug nach Beijing buchen, um mein Visum zu verlängern. Außerdem habe ich eine Stelle an meinem rechten Fuß, die gerötet aussieht und unerträglich juckt, die werde ich wahrscheinlich irgendwo behandeln lassen müssen. Aber jetzt ist vielleicht kein so guter Zeitpunkt, um Juli das zu sagen. Zum Glück verfliegt ihr Ärger meistens schnell.
    Es dauert fünf Tage bis zur Terrakotta-Armee, und auf dem Weg dorthin komme ich durch Ortschaften, die wirken, als hätten sie sich seit einem halben Jahrhundert kaum verändert: braune Ziegelhäuser mit Wäscheleinen dazwischen, rauchende Fabriktürme, hier und da ein Parteispruch an der Wand. Auf der Straße sind fast nur alte Leute und Kinder zu sehen, es riecht nach brennendem Holz und nach Kohle.
    In der Stadt Weinan fällt mein Blick auf ein Bild von Lei Feng, dem Modellsoldaten. Die Farbe ist schon etwas ausgeblichen, aber er sieht genauso zuversichtlich und pausbäckig aus wie sonst auch immer. Man könnte ihn sich eigentlich auch ganz gut auf einer Packung Kinderschokolade vorstellen, wenn er nicht eine Maschinenpistole in den Händen hätte und insgesamt eher eine tragische Gestalt wäre.
    Er starb am 15. August 1962 mit gerade mal einundzwanzig Jahren, als ihm ein Holzmast auf den Kopf fiel. Ein toter Soldat der Volksbefreiungsarmee, ein Arbeitsunfall, nichts Besonderes.

Weitere Kostenlose Bücher