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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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Doch sein Tod fiel in eine politisch aufgeladene Zeit: In Afrika sagten sich reihenweise junge Nationen von den europäischen Kolonialmächten los, in der Karibik schlitterten die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten dem atomaren Weltkrieg entgegen, und in China tobten Machtkämpfe, die die Partei zu zerreißen drohten. Es ging um den desaströs gescheiterten »Großen Sprung nach vorn«. Einige Spitzenfunktionäre hatten es gewagt, Mao indirekt dafür zu kritisieren, und als Antwort hatte er gegrollt, dass »dunkle Machenschaften« und »reaktionäre Gedanken« bis in die Spitze der Partei gedrungen seien.
    In dieser Situation kamen die Tagebücher des verstorbenen Soldaten Lei Feng wie gerufen. Es waren Huldigungen an die Armee und an den Vorsitzenden Mao, wie sie schwärmerischer gar nicht hätten sein können, und dazu gab es Fotos vom Alltag eines perfekten chinesischen Soldaten: Lei Feng beim Sockenstopfen, Lei Feng bei der Feldarbeit, Lei Feng beim Lesen der Schriften des Vorsitzenden, Lei Feng mit der Stabgranate.
    Mao Zedong war begeistert. Am 5. März 1963, noch bevor er das Bergdorf Dazhai zum Vorbild für die Landwirtschaft erhob, verkündete er dem chinesischen Volk, dass ab jetzt ausnahmslos alle vom Genossen Lei Feng zu lernen hätten. Und das hieß konkret, dass besonders die jungen Leute ihn, den Vorsitzenden Mao, mehr verehren sollten als selbst ihre Lehrer oder ihre eigenen Eltern.
    Heute hat sich das wieder geändert, und wenn dieses Jahr am 5. März wieder der Lei-Feng-Tag stattfindet, dann wird von den Kindern weniger das Herunterbeten maoistischer Sprüche erwartet als vielmehr ein bisschen Müllaufsammeln im Stadtpark.
    Ich frage mich, wie Lei Feng wohl heute denken würde, wenn er noch am Leben wäre. Achtundsechzig Jahre wäre er dieses Jahr, etwa gleich alt wie Präsident Hu und Premierminister Wen, und damit würde er zu einer Generation gehören, die wie kaum eine andere durchgeschüttelt wurde vom Kommunismus und von den Umbrüchen, die auf ihn folgten. Was würde er wohl von Mao Zedong halten? Mir fallen die Worte ein, die Opa Liu damals in seiner Höhlenwohnung zu mir gesagt hat, kurz bevor er das Licht ausmachte und wir uns schlafen legten: »Mao Zedong – ah … der war damals schon ein sehr alter Mann.«
    Als ich mich dem Ausgrabungsfeld der Terrakotta-Armee nähere, biege ich von der Straße ab und betrete einen matschigen Feldweg. Es ist still, die Felder sind sanft, im Westen überflutet das Gold der Abendsonne den Horizont. Ich bin aufgeregt, denn vor mir liegen zum ersten Mal auf diesem Weg Gegenden, die ich von früher schon kenne. Wird der alte Sargschreiner noch da sein? Wie wird es sich anfühlen, eine Straße zu betreten, die ich bereits einmal gegangen bin?
    Ich laufe bis spät in die Nacht, und weil ich so nah wie möglich bei der Terrakotta-Armee sein will, bleibt mir nichts anderes übrig, als in einem Gästehaus der Volksbefreiungsarmee zu übernachten. Zuerst traue ich mich kaum über die Schwelle, doch als ich dann doch noch zaghaft nach einem Zimmer frage, lacht die Matrone hinter der Rezeption gutmütig: Keine Sorge, das Gebäude gehöre zwar dem Militär, ansonsten sei es aber ein ganz normales Hotel. Ich bekomme ein Zimmer zugeteilt. Es ist einfach und sauber, nur die Bettwäsche sieht anders aus als sonst, denn sie ist mit großen roten Zeichen beschriftet: FELDZEUGDEPOT DER LUFTWAFFE XI’AN, steht da. Ich breite meinen Schlafsack darauf aus und lege mich auf den Rücken. Was meine Luftwaffenfreunde vom Huashan wohl gerade machen? In der Nacht träume ich von vielen kleinen Lei Fengs, die mich freundlich lächelnd und mit emporgehaltenen Maschinenpistolen aus dem Hotel schmeißen.

DER SARGSCHREINER
    Am nächsten Morgen stehe ich in der Ausstellungshalle Nummer eins der Terrakotta-Armee und halte vor Staunen den Atem an. Es ist schwer zu glauben, dass etwas derart Überwältigendes mir in meiner Erinnerung als langweilig erscheinen kann. Doch ich erinnere mich noch zu gut an meinen Eindruck von damals: Als ich nach der zwanzigstündigen Zugfahrt von Beijing nach Xi’an und der anschließenden Rumpelei im Bus die Halle betrat, wirkte sie auf mich wie ein Flugzeughangar, und um mich herum war ein Meer von Menschen. Ich kämpfte mich zum Geländer durch, blickte auf die Terrakotta-Armee hinab und fand sie enttäuschend: Sie schien tatsächlich aus nicht mehr zu bestehen als einigen Hundert graubraunen Figuren. Ich weiß nicht, was ich damals erwartet

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