The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
hatte, aber es war ungefähr so, als hätte man sich durch den halben Louvre gekämpft, nur um irgendwann vor einem kleinen, dunklen Gemälde mit einer lächelnden Frau darauf zu stehen und zu denken: Und die finden jetzt alle so toll?
Doch der Zauber liegt meist im Auge des Betrachters. Ich bin wieder hier, und ich weiß jetzt, dass die Tonsoldaten ursprünglich einmal bunt waren, und zwar bis zu dem Zeitpunkt, als sie aus dem Boden geholt wurden. Einige verloren ihre Farben innerhalb von Stunden, direkt unter den Augen der entsetzten Archäologen. Und obwohl heute bereits mehr als tausend Figuren ausgegraben und restauriert wurden, liegt der Großteil derArmee noch immer im Boden, genau wie das eigentliche Grab des Ersten Kaisers. Und das ist vielleicht überhaupt das Beste von allem: dass die Terrakotta-Armee nur ein Teil von etwas noch viel Größerem ist. Von der Grabanlage des Ersten Kaisers und von einer Idee, welche die Jahrtausende überdauert hat.
Der Idee von der Einheit Chinas.
Im späten dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, als sich an den Ufern des Mittelmeers noch Römer und Karthager die Köpfe einschlugen, war in diesem Teil der Welt der Kampf um die Herrschaft bereits entschieden. Von ursprünglich sieben Reichen war nur noch eines übrig: Qin. Dessen König Ying Zheng, der seine Gegner mit ebenso viel Geschick wie Brutalität niedergerungen hatte, gab sich im Jahre 221 vor Christus den Titel Qin Shihuang – »Erster Kaiser von Qin«. Und obwohl seine Dynastie nur vierzehn Jahre Bestand hatte, prägte er die Geschichte wie kaum jemand sonst, denn er schuf das Vorbild des Kaiserreichs, an dem sich China noch zwei Jahrtausende später orientieren sollte.
Der Schwur vom Pfirsichhain, der Kanalbau der Sui-Kaiser, die Mauern der Ming-Dynastie – all das waren letztendlich nur Versuche, das geeinte China zu schützen, das der Erste Kaiser Jahrhunderte zuvor geschaffen hatte.
Ich verlasse die Terrakotta-Armee und begebe mich auf den Weg zu dem Grabhügel, den sie bewachen soll. Es geht zwei Kilometer eine gewundene Landstraße hinunter, und ich halte die Augen weit offen, denn genau diese Strecke bin ich auch damals schon zu Fuß gegangen. Kurz vor meinem Ziel erkenne ich endlich auf der rechten Seite das rote Haus des Sargschreiners. Ich klopfe an die Tür, doch es rührt sich nichts. Als ich im Restaurant nebenan nachfrage, lacht die Besitzerin: Ja, sie erinnere sich an mich, aber der Bart, der sei neu, oder? Sie ruft für mich bei dem Sargschreiner an, und wenig später kommt er mit seinem kleinen Traktor auf den Hof gefahren. Auf dem Anhänger steht ein mit einem roten Tuch bedeckter Sarg. Als der alte Mann absteigt, fällt mir auf, dass er um einiges kleiner ist, als ich ihn in Erinnerung habe. Doch mit seinem schwarzen chinesischen Anzug und dem ernsten Lächeln sieht er noch immer sehr würdevoll aus. Nur halt kleiner.
»Es ist Schicksal, dass du mich noch hier angetroffen hast!«, sagt er, und dabei deutet er mit dem Kopf in Richtung seines Hauses. »Drei Wochen noch, und es wäre zu spät gewesen.« Ich weiß, er meint die geplante Verbreiterung der Straße, ich habe die weiße Linie auf dem Boden gesehen. Außerdem haben wir darüber schon gesprochen, als ich zum ersten Mal hier war. Damals saßen wir hier mit seiner Familie zusammen und schmatzten an einer riesigen Wassermelone herum, und ich stellte eine Frage nach der anderen: Hatte sich das Leben nach der Entdeckung der Terrakotta-Armee zum Guten oder zum Schlechten verändert? Nervten die Touristenbusse nicht, die die ganze Zeit vor ihrer Nase hin und her fuhren? Und wie war es mit der Ruhe des Dorflebens, vermissten sie die nie?
Die Familie guckte mich an wie einen Trottel, und der erwachsene Sohn übernahm schließlich die Aufgabe, mir alles zu erklären: Fortschritt, sagte er sehr langsam und sehr deutlich, Fortschritt sei doch der Schlüssel zu allem. Damit wiederholte er das Mantra, das in China alles Wünschen und Streben zu regieren scheint. Seine Augen leuchteten, während er weitersprach: Das mit dem Fortschritt sei doch ganz einfach, denn wo es Touristen gebe, da brauche man über kurz oder lang auch Hotels, Restaurants, Souvenirläden und Transportmittel, und davon würden schließlich alle profitieren. Und man stelle sich vor, bald müsse sogar die Straße verbreitert werden, damit hier später noch mehr Busse hin und her fahren könnten! Sei dies nicht alles Fortschritt?
Und jetzt ist es also
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