The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
an einen einsamen Ort bringen und dort umbringen würden. Mama lachte kurz trocken auf, als sie fertig übersetzt hatte, doch während ich noch mitlachte, bemerkte ich, dass sie eigentlich weinte.
SCHWIMMEN
Rechter Arm, linker Arm, atmen. Beinschlag nicht vergessen. Von der Wende abstoßen, gleiten lassen, dann wieder mit den Händen ausgreifen. Ich fühle mich schwerelos. Aus meinen Augenwinkeln sehe ich Luftbläschen aufsteigen, das Wasser ist kühl und klar, die Geräusche sind gedämpft. Mein Atem hört sich an wie ein rhythmisches Grollen. Es ist fast wie damals im Verein, doch dann sehe ich die Gesichter der Hotelangestellten, die mich vom Rand aus neugierig beäugen.
»Nicht schlecht«, bemerkt einer, als ich während einer Pause keuchend am Rand hänge. Und obwohl ich abwinke, bin ich doch insgeheim dankbar für sein Lob, denn Schwimmen ist so ziemlich die einzige Sportart, die ich beherrsche.
Die letzten Tage waren verwirrend. Oben in meinem Zimmer liegen hundert pinkfarbene Mao Zedongs und brennen mir ein Loch in meinen Rucksack. Das sind zehntausend Yuan, also rund tausend Euro, die mir nicht gehören. Sie wurden mir am Tag meiner Ankunft von einer Frau namens Maomao überreicht, nachdem sie bereits ein Abendessen, ein Zimmer in einem Luxushotel und eine Fremdenführerin für mich bezahlt hatte. »Von deinem Freund Steven«, sagte sie, als sie mir den Umschlag mitdem Geld in die Hand drückte, und ich verstand die Welt nicht mehr. Ich kannte den Mann doch gar nicht! Alles, was ich über Steven wusste, war, dass er aus Hongkong kam, seit mehreren Jahrzehnten in Kanada lebte und ihm meine Wanderung anscheinend sehr gefiel. Er schrieb ab und zu aufmunternde E-Mails.
Ich konnte das Geld unmöglich annehmen.
Doch als ich versuchte, den Umschlag zurückzugeben, wollte Maomao davon nichts wissen. Ich müsse das mit Steven ausmachen. Noch am selben Abend erhielt ich eine E-Mail von ihm: »Chris, keep the money for now, we can talk about it later!«
Juli wusste auch keinen Rat.
Ich wollte auf keinen Fall in dem Luxushotel bleiben. Ein neues Zimmer musste her, am besten ein günstiges mit einem schnellen Internetzugang. Die Fremdenführerin bot an, mir bei der Suche zu helfen, also schnallte ich mir den Rucksack auf die Schultern und trottete hinter ihr her. Es konnte ja nicht so schwierig sein, in einer Millionenstadt wie dieser etwas Passendes zu finden.
Wir irrten sechs Stunden lang durch Xi’an. Manche Hotels waren zu teuer, andere hatten kein Internet, wieder andere waren ausgebucht. Und je unsicherer ich mich fühlte, desto sturer wurde ich. So wie eigentlich immer.
Es war früher Abend, und das Lächeln der Fremdenführerin sah bereits etwas gequält aus, als wir endlich in einem Gewerbegebiet im Westen der Stadt fündig wurden: ein neues Businesshotel, ein glitzernder Turm inmitten einer Welt aus Stahl und Beton. Ich bezog ein Zimmer im vierundzwanzigsten Stock, und irgendwie hatte ich das Gefühl, etwas Großartiges geleistet zu haben. Dabei waren meine Probleme nicht weniger geworden: der Fuß, der Pass, der Umschlag mit dem Geld, alles war noch genauso wie zuvor. Aber dafür hatte mein Hotel jetzt eine Schwimmhalle, in der rund um die Uhr mehrere Hunderttausend Liter kühles, klares Wasser auf mich warteten.
Es dauert nicht lange, und ich merke, dass ich mich lieber zum Beckenrand treiben lassen sollte. In der Umkleide tritt mir mein Spiegelbild entgegen: Ich bin dünner als noch vor ein paar Monaten, das Haar ist wirr und der Bart eine Katastrophe. So sieht also jemand aus, der Fußpilz hat.
Gestern war ich beim Arzt oder vielmehr im Krankenhaus. Nachdem ich die Große Moschee und die Wildganspagode besichtigt hatte und mich nur halbherzig dafür hatte begeistern können, klagte ich Juli am Telefon mein Leid, und sie bestand darauf, zuallererst meinen Fuß in Ordnung bringen zu lassen. Also ging ich ins Krankenhaus und zog eine Wartemarke. Ich saß eine Weile in der Abteilung für Haut- und Geschlechtskrankheiten herum und betrachtete die anderen Wartenden, dann erhielt ich eine Salbe und den Rat, mindestens zwei Wochen lang nicht mehr in meinen Wanderstiefeln herumzulaufen. Es war deprimierend.
Ich beschließe, in meinem Zimmer zu duschen, und nehme den Fahrstuhl in den vierundzwanzigsten Stock. An den Wänden sind Anzeigen, die in den buntesten Farben für das Vergnügungsangebot des Hotels werben: Schwimmhalle, Karaoke-Bar, Massagesalon, Restaurants mit chinesischen und westlichen
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