The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
passiert.
»Wohin werdet ihr umgesiedelt?«, frage ich, und der Sargschreiner winkt müde ab. »In ein anderes Dorf hier in der Nähe. Ich muss mir dort ein Haus bauen, obwohl ich noch überhaupt keine Ahnung habe, wie das Geschäft laufen wird.« Er seufzt. »Und weißt du, was das Schlimmste ist?«
Ich kann es mir schon denken.
»Die Entschädigung, die sie uns geben wollen«, er schürzt verächtlich die Lippen, »die ist viel zu gering!«
Armer alter Sargschreiner.
Um etwas für meinen juckenden Fuß zu tun, begebe ich mich am nächsten Tag zu den Quellen von Huaqing. Sie sind unweit der Straße an einem Berghang gelegen, und ihr Wasser gilt seit Jahrtausenden als heilkräftig, besonders bei Hautproblemen. Sogar die schöne Yang Guifei soll hier schon gebadet haben. Ihr Leben als Lieblingskonkubine am Hof währte nicht lange. Als das Reich von einem Aufstand erschüttert wurde und sie sich in politische Machtkämpfe verstrickte, wurde sie für den Kaiser untragbar, und bis heute erzählt man sich von den bitteren Tränen, die er vergossen haben soll, nachdem sie durch Erhängen gestorben war. Ich stolpere eine Zeit lang in den Parkanlagen zwischen Pavillons, Bäumen und Brunnen herum, dann finde ich endlich ein Gebäude, in dem kleine Baderäume vermietet werden. Meiner ist mit Marmor und Goldimitationen ausgekleidet und sieht grässlich kitschig aus. Ich bin begeistert.
Ob ich ein Mädchen zur Begleitung wünsche, fragt die Dame am Eingang, doch als ich offensichtlich zu lange brauche, um mir eine Antwort zu überlegen, lässt sie die Tür hinter mir ins Schloss fallen, und ich bin mit meinem Quellwasser allein.
Natürlich bringt es nichts, seine Füße stundenlang in heißes Wasser zu halten, wenn man einen Fußpilz loswerden möchte. Und wenn man danach noch längere Strecken laufen will, dann ist es im Gegenteil eher nachteilig, wenn die Haut an den Füßen vom Wasser völlig aufgequollen und weich ist. Das weiß ich hinterher.
Der 29. Februar ist der Tag, an dem ich endlich Xi’an erreiche. Auf den letzten Kilometern wirkt es fast, als erhebe sich die Stadt Xi’an vor mir aus dem Staub. Zuerst ist es nur eine Autobahnbrücke. Dann komme ich über eine Kreuzung, auf der zwei Polizisten verzweifelt versuchen, den Verkehr zu besänftigen. Währenddessen verschwinden die Werkstätten und Kaschemmen auf beiden Straßenseiten und machen Häusern Platz, die immer höher und immer enger beieinanderstehen. Die Zahl der Werbeschilder nimmt zu. Beim Tianle-Tor durchschreite ich die Stadtmauer und sehe verglaste Hochhausfassaden vor mir in den Himmel ragen. Dann muss ich durch das Gewühl der Hauptstraße. Einkaufstüten überall, Fressbuden verströmen ihren Duft, ein Mädchen hat einen englischen Spruch auf ihrer Hose stehen: »That’s all folks!« Und irgendwie passt es ganz gut: Fast vier Monate hat meine Reise durch das Kaiserreich gedauert, anderthalbtausend Kilometer von der letzten Kaiserstadt bis in die erste. Dieser Teil der Reise ist vorbei, ab hier beginnt das Wegenetz der Seidenstraße!
Erst abends fällt mir auf, was heute für ein Datum ist. Der 29. Februar war eigentlich der Tag, den Mama und ich alle vier Jahre zusammen feiern wollten.
Das erste Mal war im Jahr 1996: Ich war vierzehn Jahre alt, die Scheidung meiner Eltern war in vollem Gange, da erschien Mama plötzlich in meiner Zimmertür und sagte: »Die müssen weg!« Die, das waren die Urgroßeltern. Sie gehörten zu Mamas ungarischer Familie, die in den Siebzigern aus Siebenbürgen geflüchtet war, und ich kannte sie eigentlich nur als Nagymama und Nagytata. Das Problem: Sie waren ebenso verschrumpelt wie unausstehlich. Und seit sie bei uns lebten, glich unser Haus einem Schlachtfeld: Nagymama war eine keifende Furie, die gern Ohrfeigen verteilte, und Nagytata kam seit einem Streit über die Fernsehlautstärke nur noch mit einem Knüppel bewaffnet an den Esstisch geschlurft.
An diesem 29. Februar vor zwölf Jahren sahen wir nur einen Ausweg: meinen Großonkel in der Eifel, er war schließlich der Sohn der beiden Alten. Wir würden sie bei ihm abladen, ob er wollte oder nicht. Also stopften wir sie ins Auto. Als wir auf der Landstraße waren, hielten sie einander an den Händen und redeten auf Ungarisch miteinander. Ich bat Mama zu übersetzen, und sie sagte, es gehe um die Birken, an denen wir vorbeifuhren. Nagymama und Nagytata erkannten die Bäume aus ihrer Jugend in den Karpaten wieder, und sie waren sich sicher, dass wir sie
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