The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Flughafenbus in meine alte Nachbarschaft. Überall hängen Olympiaplakate. Xiaohei macht in Unterhose die Tür auf, er sieht aus wie ein Geist, seine Wohnung ist ein einziges Durcheinander.
»Meine Frau ist mit dem Kleinen in Hunan, und ich arbeite die ganze Zeit«, sagt er und lässt sich ächzend wieder zurück auf sein Bett fallen.
Der Tag, an dem sein Sohn zur Welt kam, war der, an dem ich mich in den Bergen beim Steindorf von Yu verirrt hatte. Fast drei Monate ist das jetzt her. Wir telefonierten an diesem Tag oft, und während ich in den Bergen den Weg zurück auf die Straße suchte, raste Xiaohei nicht weit von mir mit dem Auto tausend Kilometer nach Süden, um in seiner Heimatstadt die Geburt seines Kindes miterleben zu können.
»In deine alte Wohnung ist übrigens irgendeine Firma eingezogen«, brummelt er unter seiner Decke hervor. »Jetzt ist es noch langweiliger hier als früher.«
Es ist Wochenende, und das Konsulat hat geschlossen. Ich wundere mich, dass die Wochentage so lange keine Bedeutung mehr für mich gehabt haben. Es gibt nichts zu tun. Xiaohei arbeitet abends, aber tagsüber gucken wir Filme und spielen Videospiele, und es ist fast so, als wäre ich nie weggewesen. Auch draußen im Hof hat sich nichts verändert: Die Omas und Opas winken fröhlich, die Dame vom Obststand macht einen Witz über meinen Bart, und der DVD-Verkäufer sagt »Lange nicht gesehen!« und drückt mir einen Stapel Actionfilme in die Hand.
Xiaohei lacht über die Salbe, die ich in Xi’an für meinen Fuß bekommen habe. »Das Zeug bringt nichts, glaub mir! Ich kommeaus dem Süden, bei uns wissen die Leute, was man dagegen machen muss. Was meinst du denn, warum das Hongkong-Fuß heißt und nicht Beijing-Fuß?«
Wenig später steht mein Fuß in einer mit einer grünlichen Flüssigkeit gefüllten Schüssel. Die Tunke schlägt Blasen, und sie brennt auf der Haut. »Dreißig Minuten!«, sagt Xiaohei und drückt mir grinsend einen Gamecontroller in die Hand.
Nach der Hälfte der Zeit ist der Schmerz kaum noch auszuhalten.
Als ich am Tag darauf in der Botschaft meinen Pass beantrage, ruft eine der beiden Zwillinge an. Sie mault ein bisschen, dass ich mich nicht gemeldet habe, seit ich in der Stadt bin. Sie und ihre Schwester würden mich gern zu sich zum Spielen einladen, sagt sie, und sie sagt es auf eine Weise, dass mir fast das Herz in die Hose rutscht.
Sie und ihre Schwester?
Die Formulare ausfüllen, die Passbilder abgeben und die Gebühr für den neuen Pass bezahlen, das alles passiert wie von selbst. Als ich bei der Adresse ankomme, die sie mir genannt hat, habe ich schweißnasse Hände. Sie macht auf, ihre Schwester steht hinter ihr, die Wohnung ist lichtdurchflutet, sie lächeln ihr identisches Lächeln. Ob ich etwas trinken möchte?
Wir sitzen auf dem Sofa, und sie erzählen irgendetwas über die Wohnung: Die Schwiegermutter der Älteren hat für alles bezahlt, ihr Mann hat einen Sportwagen zur Hochzeit bekommen, und die Jüngere wohnt in einer identischen Wohnung ein Stockwerk darüber. Ich höre zu und spiele mit ihren Haaren, fahre mit den Händen über ihre Rücken und fühle, wie sie atmen. Sie sind wie Katzen.
Unvermittelt steht die Jüngere auf und verlässt die Wohnung.
Eine Stunde später lehne ich an einer Bushaltestelle und habe einen Kuchen in der Hand. Er ist von der Jüngeren. Sie kam erst zurück, als ihre Schwester und ich schon wieder angezogen waren, und sie hatte den Kuchen für mich mitgebracht. Während ich an der Bushaltestelle stehe und warte, komme ich mir vor wie ein Dämon, dem Menschen und Speisen geopfert werden. Der Kuchen ist aus Sahne. Ich hasse Sahnekuchen. Ich werfe ihn in die nächste Mülltonne und steige in den Bus.
Als ich in Xiaoheis Wohnung zurückkehre, komme ich an der Schmiererei im Treppenhaus vorbei. Jemand hat sie mit weißer Farbe überstrichen, aber die Worte sind noch schwach erkennbar. Ich bin so ein Idiot.
»Du bist so ein Idiot«, sagt Xiaohei. Er fährt mich zum Flughafen und blickt mich mit einer Mischung aus Mitleid und Spott an. »Erst machst du so etwas, und dann erzählst du es auch noch deiner Freundin?«
»Sie ist ja nicht meine Freundin«, antworte ich, und er macht nur: »Hm.« Ich muss an die zehntausend Yuan denken, an die schreienden Nutten und daran, wie kompliziert alles geworden ist. Juli hat geweint am Telefon.
Als ich ins Flugzeug nach Xi’an steige, juckt mein Fuß unerträglich. Die Haut löst sich in langen Streifen ab. Kein Grund
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