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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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zur Sorge, hat Xiaohei gesagt. Das Kölner Oberbürgermeisteramt hat mir eine E-Mail geschrieben: ob ich auf meinem Weg nach Bad Nenndorf nicht in Köln haltmachen könne, Beijing und Köln seien schließlich Partnerstädte. Ich habe einen Fensterplatz neben einem älteren Ehepaar. Die Frau hat Angst vorm Fliegen. Der Mann legt seine Hand auf die ihre, sie blickt ihn dankbar an. Ich schließe die Augen und lasse mich in den Sitz zurücksinken. Ich bin so ein Idiot.

HÜHNER
    Funkstille, keine Nachricht von Juli. Ich bin in meinem Hotel in Xianyang. Es heißt »Regenbogen« und ist vollkommen braun. Die Wände, der Boden, der Tisch, von außen wie von innen – alles nur verschiedene Abstufungen der Farbe Braun. Ich kann nicht weiterlaufen, denn mein Fuß sieht aus wie ein gehäutetes Reptil, und an der Stelle, wo die Infektion war, hat sich blutiger Schorf gebildet. Ich versuche, Juli anzurufen, ihr Handy ist ausgeschaltet.
    In Tibet sind Unruhen, Leute sind gestorben. Eigentlich hätten die Kinder im ganzen Land den Lei-Feng-Tag begehen sollen, doch wahrscheinlich hatte niemand mehr so richtig Lust darauf, während sich irgendwo Polizisten und Demonstranten die Köpfe einschlugen.
    Louise ruft an. Wir waren zwei Jahre lang gemeinsam an der Filmakademie in Beijing. Damals fanden wir China toll und die anderen Ausländer hochnäsig, und wenn sich einer von uns in eine peinliche Situation gebracht hatte, dann konnten wir uns königlich darüber amüsieren. Doch diesmal lacht sie nicht, sie ist sehr ernst. »Mit einer SMS?«, fragt sie, und weil ich nicht antworte, redet sie weiter. »Ich kann schon verstehen, dass Juli nichts mehr mit dir zu tun haben will. Weißt du eigentlich, wie es war, als du ihr die Nachricht geschickt hast? Ich war gerade mit ihr im Café, und plötzlich ist sie ganz klein und still geworden, und dann hat sie angefangen zu weinen.«
    Scheiße.
    Ich rufe meinen Vater an. Er fragt nach meinem Fuß und nach meinem Pass, und er will wissen, ob ich darüber nachgedacht habe, mein Gepäck etwas leichter zu machen. Als ich ihm von der Sache mit Juli erzähle, wird er still. Ich weiß, er hat sich eigentlich gewünscht, dass sie mich zur Vernunft bringt und ich endlich aufhöre, in der Welt herumzuspazieren. Doch gerade als ich Verdruss in mir aufsteigen spüre, fängt er an, mir von denHühnern zu erzählen: Nur ein kleiner Teil von ihnen traue sich in den Hof hinaus, sagt er, das sei ihm bei seiner Arbeit als Tierarzt aufgefallen. Die allermeisten Hühner blieben immer in der Nähe der Scheune. Aber dann gebe es auch diejenigen vereinzelten Exemplare, die wirklich bis ganz nach vorn laufen würden, ganz bis zum Zaun. Egal wie groß die Gefahr auch immer sein mag.
    Ich bin gerührt. Ich weiß zwar nicht, ob er sich das ausgedacht hat, und ich weiß auch nicht, was die Moral davon sein soll oder ob es überhaupt eine gibt, aber irgendwie rührt es mich, dass mein Vater, der nüchterne Wissenschaftler, mir ein Hühnergleichnis erzählt.
    »Ich bin kein Huhn!«, sage ich zum Abschied, und er lacht leise.
    Als ich nach drei Tagen endlich wieder aufbreche, kann ich mich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten. Drei Tage lang habe ich fast nicht geschlafen. Ich habe meinen Fuß mit Lotionen eingerieben und aus dem Fenster gestarrt: die aufgehende Sonne, die untergehende Sonne, die Stadt im gelben Kleid ihrer Straßenbeleuchtung. Ich konnte den Weg überblicken, dem ich später nach Westen folgen würde, also stellte ich die Kamera am Fenster auf und drückte alle paar Stunden auf den Auslöser. Daraus machte ich ein Video und schickte es an Juli. Etwas Besseres fiel mir nicht ein. Einen Tag später kam ihre Antwort. »Du kannst auch nicht schlafen?«
    Ich gehe aus der Stadt hinaus und denke, dass ich Xianyang eigentlich überhaupt nicht Genüge getan habe. Ich habe mir nichts angesehen, mit niemandem gesprochen, bin blind umhergelaufen wie ein Handlungsreisender, und jetzt lasse ich den Ort endgültig hinter mir.
    Und obwohl mein Fuß schon bei den ersten Schritten auf der Straße schmerzt, bin ich doch froh, wieder unterwegs zu sein. Ich will zum Horizont, um zu sehen, was dahinter liegt. Und dann zum nächsten. Und zum übernächsten. Ich will weder mich selbst finden noch irgendwelche schönen Naturlandschaften. Die Umweltzerstörungen von Shanxi waren genauso interessant wie die Berge. Alles ist neu. Ich atme die Luft, und egal, wie sie schmeckt, sie ist immer neu.
    Beim Laufen sollte es keine Sorgen

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