The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
geben, sondern nur Probleme. Wo schlafe ich? Wo bekomme ich etwas zu essen her? Meine Füße tun weh. Wenn ich in der Welt herumlaufe und einen Schritt vor den anderen setze, dann versuche ich nicht an Sorgen zu denken. Ich hasse Sorgen.
Am späten Nachmittag frage ich einen alten Mann, wie weit es noch bis nach Luquan ist. Zur Antwort lacht er mich aus. Bis dorthin würde ich es heute auf keinen Fall mehr schaffen, verkündet er, und dann imitiert er kichernd meinen Humpelschritt. Ich mag ihn, diesen zahnlosen König der Landstraße.
Ich nehme mir ein Zimmer in dem winzigen Nest Dianzhang, das aus wenig mehr als einer Kreuzung zu bestehen scheint. An einem Obststand gibt es dicke, flaumige Pfirsiche zu kaufen. Ich gehe in ein kleines Restaurant und bestelle ein Gericht mit Kartoffeln, weil die mich an zu Hause erinnern. Sie schmecken besser als daheim. Während ich esse, setzen sich ein paar Leute zu mir und behaupten, Dianzhang sei früher die erste Etappe auf der Seidenstraße gewesen. Ich schmatze mein Essen in mich hinein und stelle mir Kamelkarawanen vor, die draußen vor der Tür stehen. Ich schreibe Juli eine Nachricht und bekomme eine einsilbige Antwort. Das ist besser als nichts.
In dieser Nacht schlafe ich zum ersten Mal seit Tagen durch. Ich wache spät auf und blicke verschlafen aus dem Fenster: Draußen ist Markt. Überall liegen Dinge zum Verkauf verstreut. Der Himmel ist so blau, und die Sonne brennt so warm, dass die Leute Schirme aufgestellt haben, große, bunte Schirme. Der Mann mit dem blauen Parasol auf der verschneiten Straße kurz vor Linfen fällt mir ein, und ich brauche einen Moment, um einzuordnen, was ich da sehe: die Straße, die Leute, die Schirme, die Sonne.
Heute ist der einhundertunddreißigste Tag meiner Reise, und es ist Frühling.
FRÜHLING
KEINE WIDERREDE
17. März 2008: Dianzhang, Zentralebene von Shaanxi
Ich liege unter einem Apfelbaum, und es ist so warm, dass ich meine Jacke, mein Fleece und sogar mein T-Shirt ausgezogen habe. Die Welt duftet nach Frühling. Ich sehe einer Biene zu, die sich an einer noch kaum geöffneten Blüte zu schaffen macht, und einen Moment lang wundere ich mich über mich selbst, denn ich spüre keine Angst vor ihr. Ich wäre wohl ohnehin viel zu faul, um aufzuspringen und wegzulaufen, aber vorsichtshalber behalte ich sie im Auge. Sie fliegt zu einer anderen Blüte und zappelt hektisch darin herum.
Ich habe mich von Xianyang aus nach Nordwesten gewandt. Es gibt zwar eine weniger bergige Route nach Lanzhou, aber ich wollte unbedingt den Grabhügel der Kaiserin Wu Zetian sehen und die Stadt Pingliang. Dort war ich vor zwei Jahren schon einmal, und ich möchte wissen, ob sie sich verändert hat.
Ich stehe auf und ziehe mir mein T-Shirt wieder an. Ich befinde mich mitten in einer Obstplantage, um mich herum stehen niedrige Bäume, so weit das Auge reicht. Die meisten blühen noch nicht, aber man sieht ihnen an, dass sie nur noch ein paar Stunden oder Tage Sonnenschein benötigen, um sich in ein ganzes Meer aus Blüten zu verwandeln. Die Biene wird verrückt werden bei so viel Auswahl.
Mein Zielort für diesen Abend heißt Liquan. Als ich ankomme, sehe ich überall Kinder: Sie sitzen an winzigen Tischchen vor den Hauseingängen und machen Schulaufgaben, sie laufen auf den Bürgersteigen hintereinander her, und die ganz Kleinen, die noch unten geschlitzte Hosen anhaben, stolpern zwischen den Beinen ihrer Eltern herum und quietschen aufgeregt.
Dummerweise vergesse ich bei diesem Anblick völlig, mich um eine Übernachtung zu kümmern. Ich spaziere durch die Straßen der Kleinstadt, winke den Kindern zu und mache Fotos, und unversehens habe ich den ganzen Ort einmal der Längenach durchquert und stehe wieder auf der Landstraße in Richtung Nordwesten.
An einem Massagesalon sehe ich ein Schild mit dem Hinweis ZIMMER, also frage ich nach einem Bett für die Nacht. Als der Manager bemerkt, dass ich Schwierigkeiten mit meinem Fuß habe, lässt er es sich nicht nehmen, mich zu einer Fußmassage einzuladen. Entsetzt wehre ich ab, doch er missversteht mich. Er glaubt, ich sei höflich. Also tut er das, was jeder vernünftige Mensch in seiner Situation tun würde: Er zwingt mich zu meinem Glück. »Keine Widerrede!«, flötet er und schiebt mich in Richtung einer Tür. »Wenn unser ausländischer Freund schon so weit durch unser China gelaufen ist, dann können wir ihm ja zumindest eine Fußmassage anbieten!«
Die Tür kommt näher. Was soll ich tun?
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