The Stand. Das letze Gefecht
aufgehört, aber Tom aß gierig gleich sechs Stück, einen nach dem anderen, bis auf das Kerngehäuse. Er hatte Nicks Ermahnungen, nicht zuviel zu essen, in den Wind geschlagen; wenn Tom Cullen sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte er so stur und trotzig sein wie ein eigensinniges vierjähriges Kind.
Und so kam es, daß Tom von etwa elf Uhr morgens bis zum Nachmittag Dünnpfiff hatte. Der Schweiß floß ihm in Strömen. Er stöhnte. Selbst bei geringen Steigungen mußte er absteigen und sein Rad schieben. Nick konnte sich trotz der Wut über die verlorene Zeit eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen.
Als sie gegen vier Uhr nachmittags die Stadt Pratt erreichten, beschloß Nick, daß es für heute genügte. Tom ließ sich dankbar an einer Bushaltestelle auf eine Bank fallen, die im Schatten stand, und döste sofort ein. Nick ließ ihn dort sitzen und ging durch das Geschäftsviertel, um einen Drugstore zu suchen. Er wollte PeptoBismol besorgen und Tom zwingen, das Zeug zu trinken, wenn er aufwachte, um Tom zuzustöpseln. Nick war entschlossen, den Zeitverlust am nächsten Tag wettzumachen.
Zwischen dem Theater und dem hiesigen Norge fand er ein RexallGeschäft. Er betrat es durch die offene Tür, blieb einen Augenblick stehen und sog den mittlerweile bekannten heißen, stickigen und ungelüfteten Geruch ein. Aber er nahm auch andere schwere, erstickende Gerüche wahr. Der stärkste stammte von Parfüm.
Vielleicht waren in der Hitze ein paar Flaschen geplatzt. Nick sah sich um, suchte die Magenmedizin und fragte sich, ob Pepto-Bismol in der Hitze verdarb. Aber das würde auf dem Etikett stehen. Sein Blick streifte eine Schaufensterpuppe, und zwei Reihen weiter sah er, was er suchte. Er war schon zwei Schritte in diese Richtung gegangen, als ihm klar wurde, daß er noch nie eine Schaufensterpuppe in einer Drogerie gesehen hatte. Sie stand völlig reglos da, eine Flasche Parfüm in der einen, das kleine Glasstäbchen, mit dem das Zeug aufgetragen wurde, in der anderen Hand. Ihre porzellanblauen Augen waren weit aufgerissen, fassungslos und überrascht. Das braune Haar hatte sie mit einem glänzenden Seidenschal zurückgebunden, der ihr halb über den Rücken hing. Sie trug eine rosa Matrosenbluse und Jeansshorts, die so weit abgeschnitten waren, daß man sie für einen Slip halten konnte. Sie hatte einen pickeligen Ausschlag auf der Stirn und einen besonders fetten Pickel mitten auf dem Kinn.
Sie und Nick sahen einander über die halbe Länge des verlassenen Drugstores an, standen beide wie erstarrt. Dann fiel ihr die Parfümflasche aus der Hand und zerplatzte wie eine Bombe; Treibhausgeruch erfüllte den Laden, es roch wie in einem Bestattungsinstitut.
»Mann, bist du echt?« fragte sie mit zitternder Stimme. Bei ihrem plötzlichen Anblick hatte Nicks Herz rasend schnell zu schlagen angefangen; er k onnte spüren, wie ihm das Blut schwindelerregend in den Schläfen pochte. Sogar vor seinen Augen hatte es leicht zu flirren begonnen; Lichtpünktchen tanzten vor seinem Gesichtsfeld.
Er nickte.
»Du bist kein Gespenst?«
Er schüttelte den Kopf.
»Dann sag was. Wenn du kein Gespenst bist, sag was.«
Nick legte eine Hand auf den Mund, dann auf den Hals.
»Was soll das denn heißen?« Ihre Stimme klang leicht hysterisch. Nick konnte es nicht hören... aber er spürte es, er sah es ihrem Gesicht an. Er hatte Angst, sich ihr zu nähern. Er wußte, sie würde weglaufen. Er glaubte nicht, daß sie Angst vor einem anderen Menschen hatte; sie hatte Angst, daß sie eine Halluzination sah, und war drauf und dran durchzudrehen. Wieder spürte er eine Woge hilfloser Wut. Wenn er nur sprechen könnte...
Statt dessen führte er seine Pantomime noch einmal vor. Mehr konnte er ja nicht tun. Allmählich begriff sie.
»Du kannst nicht sprechen ? Du bist stumm ?«
Nick nickte.
Sie lachte ein schrilles Lachen, das fast enttäuscht klang. »Soll das heißen, da kommt endlich jemand, und dann ist es ein Stummer ?«
Nick zuckte die Achseln und lächelte schief.
»Na ja«, sagte sie und kam den Gang entlang auf ihn zu, »du siehst nicht schlecht aus. Ist doch schon was.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, und die Rundungen ihrer Brüste streiften fast seinen Arm. Er roch mindestens drei verschiedene Sorten Parfüm, die aber den penetranten Schweißgeruch nicht überdecken konnten.
»Ich heiße Julie«, sagte sie. »Julie Lawry. Wie heißt du?« Sie kicherte. »Kannst du mir nicht sagen, was?
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