The Stand. Das letze Gefecht
mehr sehne ich mich nach anderen Menschen. Je länger ich unterwegs bin, um so schlimmer trifft mich das alles.«
Er drückte sich ungeschickt aus und konnte es wohl auch nicht besser, ohne Rita oder seine schlimmen Träume von dem dunklen Mann zu erwähnen.
»Ich hatte oft schreckliche Angst«, sagte er vorsichtig. »Weil ich allein bin. Ziemlich verrückt. Als hätte ich erwartet, daß Indianer mich überfallen und skalpieren.«
»Mit anderen Worten, Sie suchen jetzt keine Häuser mehr, sondern Menschen.«
»Ja, vielleicht.«
»Sie haben uns gefunden. Ist doch schon was.«
»Ich glaube, Sie haben mich gefunden. Und dieser Junge macht mir Sorgen, Nadine. Das muß ich ehrlich sagen. Sein Messer ist weg, aber die Welt wimmelt von Messern, man muß sie nur aufsammeln.«
»Ja.«
»Ich will mich nicht brutal ausdrücken, aber...« Er verstummte und hoffte, sie würde es selbst sagen, aber sie sagte gar nichts, sah ihn nur mit ihren dunklen Augen an.
»Wären Sie bereit, ihn zurückzulassen?« Jetzt war es heraus, ausgespuckt wie ein Stein, und er hörte sich immer noch nicht wie ein netter Kerl an... aber war es richtig, eine schlimme Situation noch schlimmer zu machen, indem man sich mit einem zehnjährigen Psychopathen belastete? Er hatte ihr gesagt, daß er brutal sein würde, und das war er wohl auch gewesen. Aber sie lebten jetzt in einer brutalen Welt.
Derweil bohrte sich der Blick von Joes meerwasserblauen Augen in ihn.
»Das könnte ich nicht«, sagte Nadine ruhig. »Ich sehe die Gefahr, und ich weiß, daß in erster Linie Sie gefährdet sind. Er ist eifersüchtig. Er hat Angst, daß Sie wichtiger für mich werden könnten als er. Es könnte sein, daß er... daß er es noch einmal versucht, es sei denn, Sie können mit ihm Freundschaft schließen oder ihn wenigstens davon überzeugen, daß Sie nicht die Absicht haben...«
Sie verstummte und ließ offen, was sie hatte sagen wollen. »Aber wenn ich ihn zurückließe, wäre das gleichbedeutend mit Mord. Damit will ich nichts zu tun haben. So viele sind gestorben, daß man keinen mehr töten sollte.«
»Wenn er mir mitten in der Nacht die Kehle durchschneidet, damit haben Sie dann etwas zu tun.«
Sie senkte den Kopf.
So leise, daß hoffentlich nur sie ihn hören konnte - er wußte nicht, ob Joe, der sie beobachtete, ihre Unterhaltung verstand oder nicht-, sagte Larry: »Er hätte es wahrscheinlich schon gestern nacht getan, wenn Sie ihm nicht gefolgt wären. Oder nicht?«
Sie antwortete leise: »Könnte sein.«
Larry lachte. »Der Geist der zukünftigen Weihnacht?«
Sie sah auf. »Ich will mit Ihnen gehen, Larry, aber ich kann Joe nicht zurücklassen. Das müssen Sie entscheiden.«
»Sie machen es mir nicht leicht.«
»Heutzutage ist das ganze Leben nicht mehr leicht.«
Er dachte darüber nach. Joe saß auf der weichen Böschung an der Straße und sah aus seinen Meerwasseraugen zu ihnen herüber. Hinter ihnen schlugen die Wellen des Ozeans unaufhörlich gegen die Felsen und dröhnten in den geheimen Tunneln, wo sie das Land ausgehöhlt hatten.
»Na gut«, sagte er. »Ich finde, Sie sind gefährlich weichherzig, aber... na gut.«
»Danke«, sagte Nadine. »Ich übernehme die Verantwortung für alles, was er tut.«
»Ein schöner Trost, wenn er mich aufgeschlitzt hat.«
»Das würde mir bis an mein Lebensende auf der Seele liegen«, sagte Nadine, und eine plötzliche Gewißheit, daß sich alle ihre Worte über die Unverletzlichkeit des Lebens eines nicht zu fernen Tages erheben und sie verspotten würden, durchfuhr sie wie ein kalter Wind, so daß sie erschauerte. Nein, sagte sie sich. Ich werde nicht töten. Das nicht. Niemals.
Sie verbrachten die Nacht im weichen weißen Sand des öffentlichen Strandes von Wells. Larry entfachte ein großes Lagerfeuer oberhalb des Tangstreifens, der den letzten Hochwasserstand markierte, und Joe saß abseits von ihm und Nadine und warf hin und wieder kleine Äste in die Flammen. Ab und zu hielt er einen größeren Ast ins Feuer, bis dieser wie eine Fackel brannte; dann lief er damit am Strand entlang und hielt ihn hoch wie eine riesige brennende Geburtstagskerze. Sie beobachteten ihn, bis er aus dem dreißig Schritte messenden Lichtkreis des Feuers verschwunden war, sahen dann nur noch die Fackel, deren Flamme bei Joes schnellem Lauf nach hinten geweht wurde. Der Wind war stärker geworden, es war so frisch wie seit Tagen nicht mehr. Larry erinnerte sich vage an den Regenguß an dem Nachmittag, als er seine
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