The Stand. Das letze Gefecht
wir trotzdem eigene Kinder haben.« Sie sah ihn mit blutunterlaufenen, unglücklichen Augen an.
»Aber ich will dieses Kind. Ist das so schlimm?«
»Nein. Natürlich nicht.«
»Ich habe die ganze Zeit gelegen und darauf gewartet, daß er sich bewegt. Er hat sich nicht mehr bewegt, seit Larry hier war und nach Harold gefragt hat. Weißt du noch?«
»Ja.«
»Ich habe gespürt, wie sich das Baby bewegte, und wollte dich nicht wecken. Jetzt wünschte ich, ich hätte es getan.« Sie fing wieder an zu weinen und hielt einen Arm übers Gesicht, damit er es nicht sah.
Stu nahm den Arm weg, streckte sich neben ihr aus, küßte sie. Sie umarmte ihn wild und lag dann reglos neben ihm. Als sie sprach, klangen die Worte gedämpft an seinem Hals.
»Nichts zu wissen macht es viel schlimmer. Ich kann nur abwarten. Und das Warten dauert so lange, wenn man damit rechnen muß, daß das Baby stirbt, bevor es noch einen Tag alt ist.«
»Du wartest nicht allein«, sagte er.
Sie umarmte ihn dankbar, und sie blieben lange still nebeneinander liegen.
Nadine Cross war fast fünfzehn Minuten im Wohnzimmer ihrer alten Wohnung und sammelte ihre Sachen ein, als sie ihn im Sessel in der Ecke sitzen sah; nackt bis auf die Unterhose und mit dem Daumen im Mund betrachtete er sie mit seinen seltsam grau-grünen Chinesenaugen. Sie erschrak so sehr sowohl über die Erkenntnis, daß er die ganze Zeit da gesessen haben mußte, wie über seinen tatsächlichen Anblick -, daß ihr Herz einen furchtsamen Sprung in der Brust machte und sie aufschrie. Die Taschenbücher, die sie gerade in den Rucksack stopfen wollte, fielen mit Papierrascheln zu Boden.
»Joe... ich meine, Leo...«
Sie legte eine Hand zwischen Brust und Hals, als wollte sie das irre Pochen ihres Herzens beruhigen. Aber ihr Herz wollte sich noch nicht beruhigen lassen, mit oder ohne Hand. Ihn plötzlich zu sehen war schlimm; ihn halbnackt und so zu sehen, wie er sich benommen hatte, als sie ihn in New Hampshire kennenlernte, war noch schlimmer. Es glich zu sehr einer Rückkehr, als hätte ein irrationaler Gott sie plötzlich in der Zeit zurückversetzt und dazu verdammt, die letzten sechs Wochen noch einmal zu durchleben.
»Du hast mir einen Heidenschreck eingejagt«, sagte sie leise. Joe sagte nichts.
Sie ging langsam zu ihm und rechnete halb damit, ein langes Küchenmesser in seiner Hand zu sehen, wie in alten Zeiten, aber die Hand, die er nicht am Mund hatte, lag unschuldig in seinem Schoß. Sie sah, daß das Kaffeebraun seiner Haut milchig geworden war. Die alten Narben und Kratzer waren nicht mehr da. Aber die Augen waren dieselben... Augen, die einen verfolgten. Was in ihnen gewesen war, jeden Tag ein bißchen mehr, seit er Larry am Feuer Gitarre spielen gehört hatte, war jetzt vollkommen verschwunden. Seine Augen waren wie bei ihrer ersten Begegnung, und das erfüllte sie mit einer Art schleichendem Entsetzen.
»Was machst du hier?«
Joe sagte nichts.
»Warum bist du nicht bei Larry und Lucy-Mom?«
Keine Antwort.
»Du kannst hier nicht bleiben«, sagte sie und versuchte, vernünftig mit ihm zu reden, aber bevor sie weitersprechen konnte, überlegte sie, wie lange er tatsächlich schon hier war.
Es war der Morgen des 24. August. Sie hatte die beiden letzten Nächte bei Harold verbracht. Der Gedanke kam ihr, daß er seit vierzig Stunden mit dem Daumen im Mund hier sitzen mochte. Das war natürlich eine lächerliche Vorstellung, er mußte essen und trinken (oder nicht?), aber als Gedanke und Bild erst einmal da waren, ließen sie sich nicht mehr abschütteln. Das schleichende Grauen kam wieder über sie, und ihr wurde mit einem Anflug von Verzweiflung klar, wie sehr sie sich verändert hatte: früher hatte sie ohne Furcht neben diesem kleinen Wilden geschlafen, als er noch bewaffnet und gefährlich war. Jetzt hatte er keine Waffen mehr, aber sie empfand ihm gegenüber Todesangst.
Sie hatte gedacht, ( Joe? Leo? ) seine frühere Persönlichkeit wäre ein für allemal abgetötet worden. Jetzt war sie wieder da. Und er war hier.
»Du kannst hier nicht bleiben«, sagte sie. »Ich bin nur gekommen, um ein paar Sachen zu holen. Ich ziehe aus. Ich ziehe zu... zu einem Mann.«
Ach ist Harold das, spöttelte eine innere Stimme. Ich dachte, er wäre nur ein Werkzeug, um etwas zu erreichen.
»Leo, hör mal...«
Er schüttelte sacht aber wahrnehmbar den Kopf. Seine ernsten, glitzernden Augen waren auf ihr Gesicht gerichtet.
»Du bist nicht Leo?«
Wieder das sachte
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