The Weepers - Und sie werden dich finden: Roman (German Edition)
von mir geben müsste, aber er blieb, wo er war.
Karen schien ziemlich unbeeindruckt. Wenn man jahrelang als Krankenschwester gearbeitet hat, machte einem der Gestank wahrscheinlich irgendwann nichts mehr aus. Ich würde mich wohl nie daran gewöhnen. Ich folgte Mom und Karen ins Hinterzimmer, das mit einem Bett und einem Schaukelstuhl ziemlich spartanisch möbliert war.
Grandma saß auf dem Stuhl und starrte den toten Grandpa auf dem Fußboden an. Die Monate in der Kühltruhe und die Zeit, die er hier gelegen hatte, hatten ihre Spuren hinterlassen. Er war zum Großteil in das Laken gewickelt, doch irgendjemand hatte es von seinem Gesicht zurückgeschlagen. Wahrscheinlich Grandma.
Ich musste wegsehen. Mit aufeinandergepressten Lip pen lehnte ich mich gegen den Türrahmen. In dieses Zimmer würde ich keinen Fuß setzen. Ein Schritt weiter, und alle Willenskraft würde mich nicht davon abhalten können, mich zu übergeben.
Grandma sah auf. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos.
»Es ist Zeit, Edgar zu begraben«, sagte Mom sanft. Grandma starrte sie mit leeren Augen an, als wüsste sie nicht, wovon Mom redete. Hoffentlich musste ich nicht dabei helfen, Grandpas Leiche hinauszutragen. Das würde kein gutes Ende nehmen.
Jemand tippte mich auf den Arm. Ich drehte mich um. Joshua hatte aufgrund des Gestanks das Gesicht verzogen.
»Wir tragen deinen Großvater nach draußen«, sagte er mit aufeinandergebissenen Zähnen. Er atmete ebenfalls durch den Mund.
Wir? Ich linste an ihm vorbei und war überrascht, dass Tyler hinter ihm stand. Den hatte ich seit gestern Mor gen nicht mehr gesehen. Normalerweise blieb er für sich. Vielleicht war er einfach nur schüchtern.
Ich trat zurück, damit die Jungs das Zimmer betreten konnten. Sie hatten eine Trage dabei, auf die sie Grandpa legten. Ich stellte mich in den Flur, um ihnen Platz zu machen, als sie ihn aus dem Haus trugen. Grandma, Mom, Karen und ich folgten ihnen in ein paar Schritten Entfernung. Wir gingen in einen großen Garten, von wo aus man über die Weinberge blicken konnte. Nur die mit Efeuranken überwachsene Steinmauer blockierte die Aussicht.
Bobby und Larry gingen zu einem kleinen Tor in der Mauer und öffneten sie für Tyler und Joshua. Nach ein paar Minuten hatten wir eine Wiese erreicht. Unter einer großen Eiche stand ein Dutzend kleiner Kreuze. In einige davon waren Namen geritzt.
Ein Friedhof.
Beim Gedanken an die Leute, die in Safe-haven ge storben waren, erschauderte ich. Was, wenn Dad auch hier enden würde?
Wir versammelten uns um ein Loch in der Erde. Die drei Kühe, von denen mir Joshua erzählt hatte, grasten im Hintergrund. Sie hoben die Köpfe und beobachteten gleichgültig unsere kleine Versammlung. Dabei kauten sie geduldig. Ein seltsamer Anblick bei einem Begräbnis. Niemand von uns war angemessen gekleidet, aber wenn man jeden Tag ums Überleben kämpfen muss, schert man sich nicht um solche Dinge. Joshua hatte recht – Manieren und die guten Sitten waren inzwischen völlig unwichtig.
Marie und Geoffrey fehlten – irgendjemand musste ja auf Dad, Mia und Emma aufpassen.
Dad würde sich sicher aufregen, weil er Grandpas Beerdigung verpasste. Wenn er überlebt.
Ich verdrängte diesen Gedanken. Dad würde Grandpas Schicksal nicht teilen. Er würde es schaffen.
Dann spürte ich ein Kribbeln, als würde mich jemand beobachten. Ich bekam eine Gänsehaut. Die Weinberge sahen unverändert aus. Aber es war ja nicht schwer, sich zwischen den Rebstöcken zu verstecken. Ob die Weepers uns gefolgt waren? Oder war da noch etwas anderes?
Ich wandte mich von den Weinblättern ab, die sich im Wind wiegten, und den dunklen Wolken, die ihre Schatten auf sie warfen.
Tyler und Joshua mühten sich damit ab, Grandpa in das Grab zu senken und ihn dabei nicht fallen zu lassen. Er hatte noch nicht mal einen Sarg. Mom legte ihre Arme um Grandma, als sie anfingen, Erde auf die Leiche zu schaufeln. Larry sprach ein paar Worte, die ich kaum mitbekam. Ich starrte auf das Grab und fragte mich, war um ich nicht weinte. Ich war noch nie auf einer Beerdigung gewesen. Sollten die Familienmitglieder dabei nicht in Tränen ausbrechen?
Ich war jedenfalls nicht besonders traurig. Seit Grandpas Tod waren viele Monate vergangen. Ich hatte ihm bereits Lebewohl gesagt, als Dad ihn in die Kühltruhe gelegt hatte. Damals hatte ich geweint, doch jetzt spürte ich nur eine große Leere in mir. Das machte mir Sorgen. Ob ich langsam abstumpfte?
Ich beobachtete die anderen.
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