Themiskyra – Die Begegnung (Band 1) (German Edition)
plötzlich neben mir ein weißhaariger Kopf auftauchte, der ebenfalls neugierig in die trübe Brühe starrte. Vor Schreck ließ ich den Rührstab fallen. Erst nachdem ich ihn mit Hilfe von Handschuhen und zweier weiterer Holzpaddel wieder herausgefischt hatte, konnte ich mich dem Besucher widmen, der mich so abrupt aus meiner meditativen Färbearbeit gerissen hatte.
„Entschuldige, dass ich nicht angeklopft habe“, sagte der weißbärtige Herr, der bestimmt schon auf die Achtzig zuging und wie ich eine dunkle Schürze trug, die vor Farbspritzern schützen sollte. „Ich wusste nicht, dass ich heute Hilfe bekomme, und dachte, ich wäre allein hier.“
„Kein Problem“, erwiderte ich, „mir ging es genauso. Ich bin Ell.“
Er wirkte überrascht, wohl darüber, dass ich mich vorgestellt hatte, vielleicht auch, weil ich überhaupt auf seine Entschuldigung eingegangen war. „Dante“, sagte er und erklärte: „In der Färberei finden sich nicht oft freiwillige Helfer ein, weißt du, die Damen schätzen den Geruch hier nicht so besonders. Man ist hier ziemlich weit ab vom Schuss in gewisser Weise.“
Ich fand es lustig, dass er von den Amazonen als Damen sprach, das Wort schien so gar nicht geeignet, die wehrhaften Amazonen zu beschreiben. Andererseits passte es gut in Dantes Wortschatz, wie ich feststellen sollte. Er war der Typ, den man sich gern als Opa vorstellte, zumindest, wenn man so wie ich seinen Großvater nie kennengelernt hat. Ich hätte ihn jedenfalls vom Fleck weg adoptiert. Seine Augen schienen stets zu lächeln, er hatte einen aufrechten Gang und sprach sehr gewählt. Auch die abgetragene Kleidung, die er trug, konnte seinem imposanten Erscheinungsbild keinen Abbruch tun.
„So besonders ist der Geruch ja auch nicht“, gab ich zu.
„Man gewöhnt sich auch nicht dran“, vertraute er mir an. „Wobei ich das noch nicht mit Sicherheit sagen kann. Ich arbeite erst seit zwei Jahren hier, seit mein Rücken die Arbeit auf dem Feld nicht mehr so richtig mitmacht. Vielleicht akklimatisiere ich mich noch.“
Nun war es an mir, mich darüber zu wundern, dass er einfach so mit mir sprach. Offenbar war er hier wirklich ein bisschen vereinsamt – und auf der anderen Seite: Falls die Amazonen die Färberei wirklich so verabscheuten, wie er sagte, würden sie uns auch nicht ertappen und zur Rechenschaft ziehen können, wenn wir uns die Arbeitszeit mit der einen oder anderen Unterhaltung vertrieben.
„Bist du denn schon lange hier?“, fragte ich und fing wieder an, die Stoffe zu wenden.
Dante war zu einem Leinensack in der Ecke gegangen und fing an, mit einer kleinen Schaufel Stücke von Erlenrinde in einen Holzeimer zu füllen. „Oh, schon über fünfzig Jahre“, sagte er. „Zweiundfünfzig, um genau zu sein.“
Dante schien mir ein weitaus angenehmerer Gesprächspartner als Louis zu sein, wenn es darum ging, das Los der Amazonenarbeiter zu verstehen, deswegen fragte ich weiter: „Und warum? Was hat dich dazu bewegt, für Themiskyra zu arbeiten?“
Er sah auf und ich konnte ein Funkeln in seinen hellen Augen erkennen. „Was ist es, was den Menschen bewegt? Die einzige Sklaverei, die als Vergnügen empfunden wird, wie Bernard Shaw sagte?“
Überfordert mit dieser plötzlichen literarischen Anwandlung schüttelte ich nur den Kopf.
„Die Liebe!“ rief Dante enthusiastisch und setzte sich auf einen Schemel, um die Rindenstücke mit der Handschaufel zu zerkleinern. Er schien vor sich hin zu sinnieren und ich überlegte schon, ob er überhaupt weiterreden würde, als er schließlich sagte: „Als ich noch jung war, so jung wie du“, er sah auf und warf mir einen prüfenden Blick zu, um dann seine Aussage zu relativieren, „nun, wenn man es genau nimmt, ein ganzes Stück älter als du, lernte ich eine wundervolle Frau kennen, ganz anders als die anderen Mädchen zu der Zeit. Sie zeigte nicht diese Hilflosigkeit, die den Frauen aus gutem Hause damals als Tugendhaftigkeit anerzogen worden war. Im Gegenteil, sie war selbstbewusst, klug und wusste, was sie wollte. Leider nicht mich, denn sie war eine Amazone, wie ich herausfand, als ich ihr heimlich folgte. Mein Herz war in Liebe zu ihr entbrannt, ich schwor ihr tausend Liebeseide und flehte sie an, bei mir zu bleiben.“
Mein Rührholz wäre mir fast ein weiteres Mal in den Bottich gefallen, so gebannt lauschte ich den Worten des alten Herrn.
„Aber ihr Sinn stand fest. Nie hätte sie ihr Wesen für einen Mashim, für mich geändert. Und ich
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