Themiskyra – Die Begegnung (Band 1) (German Edition)
waren wir nicht sehr viele und hielten zusammen, deshalb musste ich von ihrer Seite keinen Verrat fürchten. Irgendwann jedoch, als Louis anfing, herumzulaufen und das Gelände zu erkunden, flog die Geschichte auf, denn die Amazonen wunderten sich natürlich, wo der kleine Junge herkam. Ich erzählte ihnen, dass er das Kind einer Arbeiterin sei, das sie zurückgelassen habe und um das ich mich nun kümmere. Da es ja nur ein Junge war, konnten sie die Geschichte wohl nachvollziehen und glaubten sie. Die Bedingung, dass er bleiben durfte, war natürlich, dass auch er für Themiskyra arbeiten musste.“
„Und mir erzählst du das einfach so?“, fragte ich ungläubig.
„Du scheinst mir vertrauenswürdig zu sein. Außerdem: Louis ist volljährig und braucht mich nicht mehr. Warum sollte ich weiter Lügenmärchen erzählen? Das Beste wäre, wenn die ganze Geschichte herauskäme und sie ihn verbannen würden. Dann könnte, nein, müsste er endlich von hier weg. Das ist es, was er sich am sehnlichsten wünscht.“ Er klang traurig.
„Er würde dich nie verlassen“, sagte ich gedankenverloren. Mir wurde erst bewusst, dass ich mich verraten hatte, als ich Dantes überraschten wachsamen Blick wahrnahm.
„Du kennst ihn.“ Dann fiel der Groschen. „Du bist die kleine Amazone von der Apfelplantage mit der Heuschreckenphobie“, sagte er langsam.
Kapitel 19
Ich schnaubte unbegeistert. Es wäre mir lieber gewesen, wenn meine geheimen Ängste auch weiterhin geheim geblieben und nicht als witzige Anekdoten im Arbeiterquartier kursiert wären. Andererseits wunderte es mich, dass Louis überhaupt von mir erzählt hatte, und ich fragte mich, was Dante sonst über mich wissen mochte.
„Gräme dich nicht, mit deiner Furcht bist du in guter Gesellschaft: Auch Salvador Dalí hatte eine Heuschreckenphobie. Sie steht in seinem Werk für Tod und Zerstörung“, tröstete Dante mich abwesend.
Ich fragte mich kurz, ob Dalí wirklich gute Gesellschaft für mich war, bevor ich den Kopf von dem exzentrischen Surrealisten frei schüttelte und mich wieder auf die Geschichte konzentrierte, die Dante mir erzählt hatte. Sie rückte das, was ich bisher von Louis wusste, plötzlich in anderes Licht.
Ich versetzte mich in seine Lage und begriff mit einem Mal in vollem Umfang seine Wut auf die Amazonen, zu denen seine Mutter gehörte, die ihn ausgesetzt und damit zum Tod verdammt hatte. Ich begriff seinen Hass auf den Lebensstil der Amazonen, der seine Mutter erst zu der unglaublichen Tat getrieben hatte. Ich begriff die enge Bindung zu seinem angeblichen Großvater, den er nicht im Stich lassen konnte, weil er ihn davor bewahrt hatte. Und das Begreifen machte mich ebenfalls wütend.
„Vielleicht hätte ich es dir doch nicht erzählen sollen“, murmelte Dante, der mich beobachtet hatte.
„Wieso?“, fragte ich, aber er winkte ab.
„Man wird sehen. Nun ist es ohnehin zu spät. Hilf mir mal mit dem Stoff“, wies er mich an und gemeinsam hoben wir mit Holzstangen den von der Färbelösung schweren nassen Stoff aus dem Bottich und ließen ihn abtropfen, bevor wir ihn im Nebenraum zum Trocknen aufhängten.
Beim Abendessen studierte ich verstohlen die Gesichter aller Amazonen, die altersmäßig als Louis' potentielle Mutter in Frage kamen, aber ich konnte keine Ähnlichkeiten feststellen. Ich weiß aber auch nicht, was ich getan hätte, wenn ich sie unter den Frauen entdeckt hätte. Eine Szene? Vielleicht. Ich fand es immer noch unfassbar, was diese Frau getan hatte und ich wollte der Sache auf den Grund gehen. Musste.
„Suchst du was?“, fragte mich Padmini belustigt, die mir gegenübersaß.
Mein Blick fiel auf ihren dicken Babybauch und ich begann zu grübeln.
„Aella?“, rief mich Padmini und wedelte mit ihrer Hand vor meinen Augen herum, um mich wieder in die Gegenwart zu holen.
„Was?“, fragte ich verwirrt.
„Du bist überhaupt nicht bei der Sache“, schimpfte Polly.
„Entschuldigung“, murmelte ich. „Um was geht’s?“
„Morgen. Großer Bogenwettkampf“, fasste meine Schwester zusammen.
„Okay. Bin dabei. Freu mich“, antwortete ich entsprechend knapp und ließ meine Gedanken wieder in andere Gefilde abschweifen, obwohl ich merkte, dass die anderen sich darüber lustig machten. Atalante musste Aufzeichnungen darüber besitzen, wer wann geboren war. Von ominösen Jahresbüchern war die Rede gewesen. Aber fragen konnte ich sie unmöglich – und Tetra genauso wenig. Das hieß, ich musste heimlich danach
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