Themiskyra – Die Begegnung (Band 1) (German Edition)
du hilfst mir, wenn ich von hier weg will. Also hilf mir!“
Er beachtete meinen Ausbruch nicht, sondern sah mich fest an. „Und du bringst es damit um seine Familie, ist dir das klar?“
Nein, daran hatte ich noch nicht gedacht. Aber es war klar, dass Louis es tat. Wenn ich mit dem Kleinen floh, würde er nicht an die Familie seines Vaters übergeben werden können. Doch wenn ich nicht floh …
Ich nahm Louis das Baby wieder ab. Seine Argumente hatten mich unsicher gemacht, aber ich fühlte mich immer noch wie getrieben. Und ich wusste zugleich, dass ich es mir nie verzeihen würde, wenn Padminis Sohn etwas zustoßen sollte. So oder so. „Und wenn wir es bei euch verstecken? In den Arbeiterquartieren?“, schlug ich verzweifelt vor.
Aber es war zu spät. Louis trat einen schnellen Schritt zurück. Seine Gestalt verschmolz mit den Schatten des Gangs hinter ihm und bis ich begriff, weshalb, ertönte Tetras ruhige Stimme:
„Ell. Was hast du dir nur gedacht.“
Langsam drehte ich mich zu ihr um. Sie stand mit verschränkten Armen im Stalltor und sah mich tadelnd an.
„Areto tobt.“
„Sie wollte … sie war …“ Wie sollte ich etwas in Worte fassen, was ohnehin keine verstehen oder glauben würde? Mit einem Mal fühlte ich mich vollkommen erschöpft.
„Schau mal, ich weiß, dass das für dich alles sehr verwirrend sein muss. Aber so wird das bei uns eben gehandhabt. Es ist schon immer so gewesen.“
„Amazonensöhne werden gemäß den alten Traditionen sofort nach der Geburt getötet“, sagte ich tonlos.
„Aber doch nicht hier, Ell.“ Sie trat auf mich zu und lächelte nachsichtig. „Jetzt gib mir den Kleinen. Er bekommt erst einmal etwas zu trinken und dann wird er schlafen gelegt. Du kannst ihn morgen besuchen.“
Wie Areto streckte auch sie die Hände nach ihm aus, aber in ihrem Blick erkannte ich die Zuneigung, die meiner Tante gefehlt hatte, und einen Hauch von Wehmut. Widerwillig ließ ich meinen kleinen Neffen los, als Tetra ihn mir abnahm. Ich wusste, ich würde ihn nie wieder im Arm halten, würde ihn nie wieder sehen, wenn er die Amazonenstadt verlassen hatte. Wo er gelegen hatte, fühlte sich meine Haut zu kalt an.
„Pass gut auf ihn auf“, war das Einzige, was ich hervorbrachte. „Bitte.“
„Natürlich. Ich verspreche es dir“, erwiderte sie und wickelte ein Ende das Handtuchs, das heruntergefallen war, wieder sorgsam um das Kind. „Ich bringe ihn sofort in die Klinik zu Deianeira. Mach dir keine Sorgen, Ell. Sie wird sich gut um ihn kümmern.“
„Bist du sicher?“
„Ganz sicher.“ Ihr Gesichtsausdruck verriet mir, dass sie davon überzeugt war.
Ich schätze, du kannst der Ärztin vertrauen, bemerkte mein Verstand.
Welche Wahl habe ich schon, dachte ich mutlos.
„Geh jetzt nach Hause, Ell“, sagte Tetra. „Es ist schon spät.“
„Was passiert mit ihm?“
„Er bleibt noch ein paar Tage in Themiskyra.“
„Und dann?“
„Dann wird er der Familie seines Vaters übergeben.“
„Und dann?“
Tetra zuckte die Schultern. „Das geht uns nichts mehr an.“ Mit diesen Worten wandte sie sich ab und verließ den Stall.
Mein Gehirn war völlig leer. Ich dachte keinen einzigen Gedanken, während ich Hekate den Sattel wieder abnahm, ihn zurücktrug und mein Pferd in seine Box sperrte. Weder mein Verstand noch mein Herz gaben auch nur den leisesten Muckser von sich. Doch als ich mich danach im Halbdunkel an die Wand lehnte und auf die Muster starrte, die vereinzelte Strohhalme auf dem Boden bildeten, überfiel mich plötzliche, äußerste Einsamkeit. Ich war nicht allein, das wusste ich. Ich hatte Polly und meine Mutter und gute Freundinnen – und keine von ihnen würde auch nur annähernd begreifen können, was heute Abend in mich gefahren war.
Erst ein Schatten, der auf einmal über mich fiel und das Licht aus dem Hauptgang abschirmte, riss mich aus meinem tranceartigen Zustand.
„Du hast das Richtige getan“, sagte Louis ruhig. Unbewusst war ich davon ausgegangen, dass er den Stall durch das Seitentor verlassen hatte, als Tetra aufgekreuzt war. Offenbar hatte ich mich getäuscht. Ich sah nicht auf, aber ich merkte, dass er sich neben mich an die Wand lehnte.
Was machst du noch hier? Lass mich allein. Ich will allein sein. Ich bin allein. Ich will nicht allein sein. In diesem verwirrten Augenblick hätte ich alles dafür gegeben, nur einen kurzen Moment das Gefühl zu verspüren, das ich erlebt hatte, als ich mich kuchentrunken an ihn gekuschelt hatte.
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