Themiskyra – Die Begegnung (Band 1) (German Edition)
schwarzen Haarschopf, den winzigen Ohren und Fingern … um es Padmini zu bringen, aber Sevishta hielt mich mit einer raschen Handbewegung auf, schüttelte den Kopf und zeigte auf die Tür.
Im ersten Augenblick verstand ich nicht, was los war, aber dann schlug ich das Handtuch zurück. Schlagartig wurde mir klar, dass ich während der gesamten Tortur keinen einzigen Gedanken mehr daran verschwendet hatte, dass das Geschlecht des Neugeborenen eine Rolle spielen würde. Mein Herz wurde mir schwer. Ich packte den kleinen Buben wieder ein und anstatt ihn seiner Mama an die Brust zu legen, ging ich zur Tür. Dort blieb ich noch einmal stehen und sah mich nach Padmini um, als wolle ich ihr eine Chance geben, die sie gar nicht hatte.
Ihr erschöpfter Blick ging im ersten Moment durch mich hindurch, bevor ihr bewusst zu werden schien, was geschehen war. Eine Sekunde lang starrte sie den inzwischen verstummten Säugling in meinem Arm an, dann drehte sie ihren Kopf zum Fenster und schloss die Augen. Sevishta warf mir einen weiteren unnachgiebigen Blick zu und ich verließ den Raum.
Ich ließ die Tür lauter ins Schloss fallen, als nötig und anständig gewesen wäre, und ging ein paar Schritte, dann konnte ich nicht mehr. Hoffnungslosigkeit überflutete mich. Ich war fertig von den Eindrücken der vergangenen Stunden und das Mitgefühl für Padmini und vor allem für ihr Kind zerdrückte mein Herz. Das kleine Bündel fest im Arm, ließ ich mich auf den Boden des Klinikflurs sinken und heulte Rotz und Wasser, vergoss all die Tränen, die Padmini nicht würde aufbringen können.
Kapitel 20
„Was sitzt du da in der Kälte? Sie wird sich verkühlen.“ Aretos erboste Stimme durchschnitt die Stille des Krankenhausflures.
Ich hatte sie nicht kommen hören. Erschöpft blickte ich zu ihr auf.
„Meine Enkeltochter. Gib sie mir“, befahl sie und streckte die Arme nach dem Bündel auf meinem Schoß aus.
„Es ist ein Enkelsohn“, erwiderte ich tonlos.
Für einen Sekundenbruchteil entglitt Aretos Miene. Ihre Augen verschmälerten sich und neben ihren Mundwinkeln traten Falten hervor, die zuvor nicht dagewesen waren. Doch ihre Hände rührten sich keinen Zentimeter und blieben gebieterisch ausgestreckt. „Gib mir das Kind. Sofort.“
Reflexartig zog ich es näher an meine Brust. Mein Neffe, dachte ich.
Amazonensöhne wurden gemäß den alten Traditionen sofort nach der Geburt getötet, ertönte plötzlich Fridas nüchterne Stimme in meinem Kopf, eine Erinnerung an eine Geschichtsstunde vor vielen Wochen.
„Manche Gemeinschaften sind später dazu übergegangen, ihre ungewollten Söhne stattdessen zu verkrüppeln und sie als Sklaven zu behalten“, hatte sie erklärt.
„Wie haben sie sie verkrüppelt?“, hatte Rehani mit großen Augen wissen wollen. „Und wieso?“
„Die Amazonen haben ihnen beispielsweise die Beine oder Arme gebrochen“, hatte die Zungenfertige erläutert. „Damit waren die Söhne wegen ihrer körperlichen Behinderungen nicht fähig, das Schwert gegen die Amazonen zu erheben, und Aufstände konnten verhindert werden, zu denen es zweifelsohne gekommen wäre, denn die Anzahl der 'Shimet in einer Gemeinschaft entsprach naturgemäß der der Frauen.“
Allein bei der Vorstellung war mir fast schlecht geworden. Als ich nun Aretos kalten Blick sah, in dem ich nicht die Spur von Zuneigung zu dem Säugling erkennen konnte, keimte mit einem Mal Panik in mir auf. Ich würde nicht zulassen, dass sie ihm irgendetwas tat. Niemals.
„Her mit ihm.“ Dieser harsche, herzlose Befehl riss mich aus der Erstarrung.
Ich sprang auf die Füße und rannte, so schnell ich konnte, den Gang entlang, das Kind fest an mich gepresst. Areto war hinter mir her, aber sie schloss nicht zu mir auf. Die Sorge um das Wohlergehen meines kleinen Neffen verlieh mir Flügel. Meine Stiefelsohlen quietschten auf dem gebohnerten Boden, als ich einen Haken schlug und in einen Seitengang einbog. Bei der nächsten Gelegenheit bog ich sofort wieder ab. Das Stakkato von Aretos Schritten verlor sich nach und nach hinter mir, bis es schließlich verstummte. Leiser Triumph durchdrang den Nebel, der mein Denken einhüllte, aber als ich aufblickte, wurde mir klar, warum Areto sich nicht mehr beeilen musste.
Der Gang vor mir war eine Sackgasse. Doch ich setzte alles auf die Stahltür in der Mauer an ihrem Ende und rannte weiter.
Notausgang, Notausgang, dachte ich, muss offen sein, muss einfach offen sein.
Die Tür war tatsächlich unversperrt.
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