Themiskyra – Die Begegnung (Band 1) (German Edition)
die Schule bis zur sechsten Klasse, danach unterrichtete mich mein Großvater, weil alle weiterführenden Schulen zu weit entfernt gewesen wären.“
Das schien mir ein sehr gebildeter Großvater zu sein, zumindest für einen Mann, der Hilfsarbeiter bei den Amazonen war. „Wie lange ist dein Großvater schon hier?“
„Sehr lang. Ich weiß es nicht genau.“ Er seufzte. „Du bist ganz schön anstrengend.“
„Pff, wenn du dir nicht alles so aus der Nase ziehen lassen würdest, müsste ich nicht dauernd nachfragen“, erwiderte ich empört.
„Ich verstehe gar nicht, warum du das überhaupt alles wissen willst“, sagte er halb widerwillig, halb ungläubig und schüttelte den Kopf.
Das fragte ich mich auch selbst manchmal. Für mich hing es einerseits mit der ersten, rätselhaften Begegnung zusammen und andererseits mit dem Interesse daran, was in Themiskyra wirklich geschah, aber das konnte ich ihm natürlich so nicht sagen. Definitiv nichts hatte es auf jeden Fall damit zu tun, dass er mir das Leben gerettet hatte, und das war das Wichtigste.
„Ich interessiere mich eben für die Menschen um mich herum. Außerdem ist hier immer noch alles ziemlich neu für mich. Ich quäle auch alle anderen mit meiner Neugier, frag nur Polly, die kann ein Lied davon singen.“
Er sah mich vielsagend an, denn natürlich würde er sie nicht fragen, das gehörte sich ja nicht. Ich hatte keine Lust auf eine Grundsatzdiskussion, deswegen kam ich auf das ursprüngliche Thema zurück.
„Gehört Boreas dir?“ Ich vermutete, nicht, denn Louis hätte ihm bestimmt keinen antiken Namen gegeben. Das war mehr so ein Amazonen-Ding.
„Anfangs nicht, da war er nur eine Dauer-Leihgabe, damit ich meine Arbeit machen kann. Aber inzwischen gehört er mir.“
„Wie das?“
„Eingetauscht gegen Arbeit“, antwortete er knapp.
Das kam mir irgendwie sinnlos vor, er hätte das Pferd ohnehin für die Arbeit verwenden können – warum also mehr arbeiten, damit es pro forma ihm gehörte? Aber das hatte wohl etwas mit Stolz zu tun und dem Wunsch danach, zumindest ein kleines bisschen Eigentum zu haben und unabhängiger zu sein. Da das Gespräch gerade einigermaßen gut lief, wollte ich das Eisen schmieden, solange es heiß war, und wagte beiläufig die Frage: „Wieso hast du mich so angesehen, damals, auf dem Hof?“
„Wann?“
„An meinem ersten Morgen in Themiskyra.“
„Keine Ahnung, wann das war. Ich erinnere mich nicht“, behauptete er und betrachtete eingehend seinen linken Stiefel.
„Doch, tust du. Wir haben kürzlich darüber gesprochen.“
„Ach das“, sagte er lahm und zögerte. „Wie habe ich dich denn angesehen?“
„Sauer. Mindestens. Eher wütend“, versuchte ich, den Eindruck in Worte zu packen, ohne ihn dabei zu beleidigen.
„Glaube ich nicht.“
„Doch.“
„Das bildest du dir ein.“
„Nein.“
„Ich kannte dich doch gar nicht, warum sollte ich das also tun?“
„Eben! Warum also hast du es getan?“
„Habe ich ja gar nicht.“
Frustriert suchte ich nach irgendwelchen Argumenten, um meine Sicht der Dinge zu beweisen, aber meine Gedanken wurden von einer berittenen Gestalt unterbrochen, die sich auf dem Feldweg unserem Pausenplatz näherte. Als sie auf ein paar Meter herangekommen war, erkannte ich Juri, den blonden Arbeiter.
„Hi“, begrüßte er Louis – nicht mich natürlich, ich wurde ignoriert, aber das kannte ich ja schon – und schwang sich vom Pferd, um ihm die Hand zu geben.
„Hi! Was machst du hier?“, fragte Louis und ich hatte das Gefühl, Erleichterung in seiner Stimme zu hören. Immerhin war er so um die Fortsetzung meines Verhörs herumgekommen.
„Ich muss zurück nach Themiskyra, Werkzeug holen. Die Erbsenerntemaschine ist hin“, erklärte der andere.
„Mal wieder“, merkte Louis an und grinste. „Das kenne ich vom letzten Jahr. Nervig.“
„Es wäre nicht so schlimm, wenn ich nicht von gestern noch so einen Kater hätte“, Juri wischte sich den Schweiß von der Stirn und besah sich den hiesigen Baumbestand. „Außerdem sind wir ohnehin schon im Rückstand.“
Bevor ich einen weiteren Wortwechsel über Obst und Gemüse – oder schlimmer noch: Erntemaschinen über mich ergehen lassen musste, machte ich durch ein dezentes Räuspern auf mich aufmerksam und sagte: „Hallo.“
Die beiden sahen mich an, Louis eher zweifelnd und sein Kumpel erstaunt. Ja, ich bin auch da. Und ich kann sprechen.
„Hi“, sagte er etwas überrumpelt und blickte mir neugierig
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