Themsen, V: Elfenzeit 17: Korsar der Sieben Stürme
ausgelegt, eingeholt, den Fang sortiert, verarbeitet und verpackt. Da blieb kaum Zeit für ein bisschen Schlaf, geschweige denn für Spiele. Im Scheinwerferlicht haben die Mandors – die Aufpasser und Sklaventreiber – sie weiterschuften lassen, Tag und Nacht.« Der Pirat schüttelte sich. »Grausig, wozu Menschen imstande sind. Und das mit ihren eigenen Kindern!«
»Nicht alle!«, widersprach Pirx piepsend. »Nicht alle sind so!«
»Da magst du recht haben, kleine Nervensäge.« Der Pirat zupfte sich am Spitzbart und blickte über das Wasser. »In meinem Gewerbe trifft man eben auf viele, die mindestens so schlimm, wenn nicht sogar viel schlimmer sind. Aber früher … früher kannte ich Menschen, die anders waren. Nette, großzügige, liebevolle Menschen.«
Einen Moment lang glaubte Pirx Trauer in der Stimme des Kapitäns zu hören und Tränen in seinen Augen schimmern zu sehen. Doch dann wirbelte Arun schlagartig herum, stemmte die Arme in die Seiten und rief seiner Mannschaft zu: »Los, ihr Faulpelze! Wenn die
Jolly Joker
nicht bis zum Sonnenuntergang vor Anker liegt, lass ich euch den Rest der Reise Salzwasser saufen und das Moos von den Planken nagen!«
Auch wenn die Stege der Stelzenplattformen gut drei Meter über dem Wasser gebaut waren, reichten sie nicht an die Reling des Piratenschiffs heran. Die Kinder hatten vorgesorgt. Zwischen Landungsbrücke und Fahrrinne steckten zwei dicke Masten parallel im Meerboden. An deren Spitzen waren jeweils Seilwinden angebracht und Taue hin und her gespannt, an denen Korbgondeln hingen. Auch die einzelnen Plattformen, die sich im Meer verteilten, waren miteinander verbunden. Natürlich gab es jede Menge kleine Ruderboote, die bunt und aus allerlei Wrackteilen zusammengezimmert an ihren Anlegestellen schaukelten. Manch eines sah aus, als wäre es Fischerboot und Schlafplatz in einem.
Grog war mittlerweile wieder aufgewacht und weigerte sich beharrlich, in einen der Körbe zu steigen und das Jermal zu betreten. Pirx hingegen konnte es kaum erwarten. Die ewige Rumhockerei auf dem Schiff war viel zu langweilig, und die Geschichten, die Arun über diese schwimmenden Inseln erzählt hatte, waren viel zu spannend gewesen, um sich so einen Ausflug entgehen zu lassen. Zusammen mit dem Piratenkapitän sprang er in die erste Gondel und ließ sich übersetzen.
Am Steg erwartete eine johlende Menge die Ankömmlinge. Zu Pirx’ großem Erstaunen konnten die Fremden ihn sehen. Zwar hatte er es auf seinen heimlichen Reisen in die Menschenwelt schon erlebt, dass Kinder die Wesen der Anderswelt bemerkten, aber das waren seltene Ausnahmen gewesen, und der kleine Pixie hatte stets Reißaus genommen. Denn die Gesetze, die der Herrscher der Sidhe Crain in dieser Hinsicht erlassen hatte, waren eindeutig. Fernab von Earrach jedoch, im Einflussbereich von Jangala, schien alles anders zu sein.
Die Welten hingen ineinander verzahnt zusammen, waren viel mehr eine einzige Welt, in der manche Dinge einfach nur zwei Seiten hatten. So wie bei einem auf einer Schnur aufgezogenen Papier, auf dessen einer Seite ein Vogel und auf der anderen ein Käfig abgebildet war. Drehte man das Papier an der Schnur schnell genug, sah man beide Bilder gleichzeitig und den Vogel im Käfig sitzen. Auf dem Jermal war es in gewisser Weise andersherum. Dort lagen die Bilder übereinander, aber der Vogel kreiste frei über seinem Gefängnis.
Eine schöne Vorstellung, die Pirx allerdings mächtig in Bedrängnis brachte. Obwohl sich die Jugendlichen um Arun drängten, um ihm die Hand zu schütteln und ihre Waren anzubieten, gab es doch eine beträchtliche Schar an Jüngeren, die seinen koboldhaften Begleiter offenbar für ein willkommenes neues Spielzeug hielten.
»Aua! Hey! Nicht doch! Lasst das!« Verzweifelt versuchte Pirx, sich zwischen die Stiefel des Piraten zu retten. Doch kaum hatte er ein Dutzend grapschender Hände hinter sich abgehängt, tauchten von vorne schon wieder die nächsten auf, stupsten ihm gegen die Nase, zupften an den Stacheln und wollten ihm seine rote Mütze klauen.
»Na, na, Kinder, wo sind denn eure Manieren geblieben?«, erklang eine recht tiefe weibliche Stimme.
»Kolga, meine Schönheit!«, begrüßte der Pirat die Meerriesin mit einer galanten Verbeugung. »Du siehst aus, als wärst du dem Meerschaum gerade erst entstiegen.«
Hinter der Traube an Kindern und Jugendlichen war eine Frau aufgetaucht, die wie aus Aquamarinstein gegossen wirkte. Ihre Haut schimmerte wie ein türkisblauer
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