Themsen, V: Elfenzeit 17: Korsar der Sieben Stürme
Menschenwelt. Probeweise machte sie einen dritten Schritt. Tatsächlich verschwand ihr Schatten wie von Geisterhand. Also waren die Grenzen fließend. Allerdings befand sie sich nicht
ganz
in der Anderswelt, sondern in einem »Dazwischen«, das ihr unter den momentanen Umständen nicht weiterhelfen würde. Sie konnte kein nahe gelegenes Portal erspüren, geschweige denn selbst eines öffnen.
Während sie tiefer in den Dschungel vordrang, bemerkte sie zwischen den meterhohen Farnen und umgestürzten bemoosten Baumstämmen bunte Vögel und andere, ihr unbekannte Tiere, die sie scheu, verwundert oder neugierig betrachteten. In den kahlen Zweigen eines Baums mit wattigen Blüten rankten sich die bauchigen Kelche fleischfressender Pflanzen. Eine graubraune Echse blickte Rian von einem Felsbrocken aus entgegen und sog mit ihrer zuckenden Zunge den fremden Geruch ein, den die Elfe in diese unberührte Natur trug.
Alles um Rian herum strotzte nur so vor Leben und Energie und erinnerte sie schmerzlich daran, dass es auch in Crain einst so ausgesehen hatte. In ihrer Heimat hatte immerwährender Frühling geherrscht, bis die Zeit Einzug gehalten hatte. Dass es auf dieser Insel, auf der sich die Welten trafen, anders war, gab ihr Hoffnung. Entsprach die Geschichte, die ihr Alriego darüber erzählt hatte, tatsächlich der Wahrheit? Vielleicht brachte die Insel ihren Besuchern tatsächlich Leben. Vielleicht gab es auf ihr einen Quell – Magie, die den Verfall aufhalten konnte.
Voller Elan spazierte die Elfe weiter die verschlungenen Trampelpfade entlang, folgte dem leisen Plätschern, das sie in der Ferne vernahm, und erreichte schließlich einen kleinen See unterhalb einer Felswand, von der sich Wasserfälle in die Tiefe stürzten. Trotzdem glänzte seine Oberfläche in einem unberührten Smaragdgrün. Am Ufer des Gewässers blühten büschelweise Hyazinthen. Ihre kleinen schneeweißen Kelche verströmten einen intensiven, fast schon betäubenden Geruch. Es war ein bezaubernder Ort. Rian ging näher und verspürte den unwiderstehlichen Drang, in das Wasser einzutauchen, sich von dem Smaragdgrün umfangen und einfach nur treiben zu lassen.
Doch sobald sie ihre Zehen in das Wasser gleiten ließ, tauchte plötzlich und wie aus dem Nichts ein haariges Wesen neben ihr auf – wahrscheinlich das vom Strand. Nun, da Rian wach und wieder ganz bei Sinnen war, verstand sie auch, warum sie keine Fußspuren im Sand gefunden hatte. Das Wesen, das genau betrachtet wie ein in die Länge gezogenes Äffchen aussah, schwebte genau wie sie über dem Boden. Sein braungrau behaarter Körper wirkte diffus – war mal fest und dann wieder transparent. Einzig die großen braunen Augen in dem rosafarbenen Gesicht blieben sichtbar und blickten die Prinzessin interessiert und vielleicht auch etwas verwundert an.
»Warum bist du hergekommen?«, hörte sie den Affen in ihrem Geist flüstern, ohne dass er seinen Mund bewegte. Während er sie ungeniert von oben bis unten betrachtete, tauchten weitere Wesen seiner Art hinter den Palmstämmen auf, stiegen aus dem See empor oder krochen aus den Blütenkelchen. Sollten die Geschichten stimmen, so wurde Rian augenblicklich bewusst, hielten diese Tiere sie vermutlich für eine Bittstellerin, die schwanger werden wollte.
»Ich bin auf der Flucht vor Piraten hier gestrandet«, antwortete sie.
»Piraten«, echote es mehrstimmig von den Wesen, die keine Elfen waren, sondern … etwas anderes. Vielleicht entstammten sie der Geistersphäre …
»Elfen unter dem Kommando von Suradet, die mich entführt hatten und nach Langkawi bringen wollten.«
»Langkawi«, echote es erneut.
»Aber meine Freunde haben Suradet bis vor die Küste dieser Insel verfolgt und wollten mich befreien«, fuhr Rian fort.
Die Affengeister nickten immer wieder.
»Nun bin ich allein und muss jemanden finden, der mich zurückbringt. Zurück auf das Festland oder zu einem Portal in mein Reich.«
»Zurückbringt«, wiederholte der schemenhafte Chor.
»Könnt ihr mir weiterhelfen? Mich zu jemandem bringen, der sich hier gut auskennt – in beiden Welten, damit ich fortkann?«
»Fort«, wisperten die Wesen. Rian bezweifelte langsam, dass sie ihre Worte überhaupt begriffen. Vermutlich waren es einfache Naturgeister – so selbstverständlich wie Tautropfen am Morgen, aber ohne großen Verstand und Sinn für Dinge, die sich außerhalb ihrer kleinen Tautropfenwelt befanden.
»Piraten«, wiederholte das Affenwesen, das sich ihr als Erstes
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