Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
hinter der Tür gegenüber wohnte ein „Dipl.-Ing. Mock“, er war nicht zu Hause, und die Speditionsfirma, deren Räumlichkeiten sich in die einstige Kranzsche Wohnung erstreckten, hatte einen Vorraum (vielleicht war er früher das Zimmer gewesen, das den hinteren Eingang der Kranzschen Wohnung vom Dienstbotentrakt getrennt hatte), in dem ein alter Mann im augenblendenden Licht einer an der Decke angebrachten Neonröhre Zeitung las und den eintretenden Mohaupt, aus der Zeitung aufblickend, in einer Art ansah, als wäre dieser ein längst verdächtiger Einschleichdieb, der nun bei frischer Tat ertappt worden sei. Mohaupt kehrte um, stieg hinunter in das Erdgeschoß, blieb vor der Tür der Hausmeisterwohnung stehen, wagte aber nicht, anzuklopfen. Er wusste nicht, was seine Hand gelähmt hatte; vielleicht klopfte er nur deshalb nicht an, weil er die neue Adresse des Richard Kranz gar nicht erfahren wollte. Die Tür öffnete sich dennoch, eine dicke Frau blickte ihm ins Gesicht. Sie musterte ihn lange, ohne etwas zu sagen, aus zusammengekniffenen Augen, deren Blick verschwommen war, leer, gutmütig unsicher, ein Schwärmerblick, der Blick einer Säuferin vielleicht. Die Frau roch säuerlich. Mohaupt fragte nach der Adresse. Nun öffnete die Frau den Mund. Zwischen weichen Lippen suchte eine angeschwollene Zunge nach Wörtern. Schnapsdunst quoll hervor. Die Mistschweine sind ja umgekommen, sagte leise und weinerlich die Frau, oder ist der Herr vielleicht von der Polizei? Mohaupt schüttelte den Kopf. Was woll’n Sie dann von mir, sagte die Frau, wandtesich langsam um und schloss hinter sich die Tür. Sie drehte den Schlüssel zweimal im Schloss um, und dieses Geräusch, das glatte Ineinandergreifen geölter Metallstücke, glaubte Mohaupt auch während der Rückreise zu hören, jedes Mal, wenn die Räder des Zuges den kleinen Zwischenraum zweier Schienen übersprangen.
War die Freundschaft mit Richard Kranz wirklich eine Freundschaft gewesen? dachte er während der Heimreise mit dem beklemmenden Gefühl, er hätte das Wort Mistschweine zurückweisen, die Frau belehren und beschimpfen, und Richard Kranz in Schutz nehmen müssen. Warum hatte er es nicht getan, nicht tun können, warum war er nicht über Nacht in Wien geblieben, warum war er nicht am nächsten Morgen auf das zentrale Meldeamt gegangen, zu einem Rechtsanwalt oder in ein Detektivbüro, um Richard Kranz’ neue Adresse zu erforschen oder erforschen zu lassen, und dann die Frau wegen jener „Mistschweine“ bei der Polizei anzuzeigen. Er sah sie im Türspalt stehen und hinter ihr, an der Wand des dämmrig beleuchteten Raums, sah er das untere Viertel eines Ölbildes in schwerem goldenem Rahmen, oberhalb des Goldes zwei seltsam langgestreckte Füße in hellen spitzen Schuhen, diese Füße hatte er bereits gesehen, irgendwo, und während er die sonderbaren Schuhe, die an Wurzeln erinnerten, betrachtet hatte, war es Abend gewesen, Porzellan hatte geklirrt, tout comprendre et rien pardonner, hatte eine Frauenstimme gesagt, es war die Stimme der Frau Kranz, natürlich, die Füße in den hellen spitzen Schuhen waren die Füße eines Clowns, Pierrot und Pierette hieß das Bild, Frau Kranz hatte das einmal erklärt, das Gemälde eines Franzosen, es hing in ihrem Salon. Mohaupt ging in den Speisewagen. Er wusste auf einmal nicht mehr, ob er das Bild noch in der Hausmeisterwohnung, gleich nach dem ersten Blick auf den Rahmen und die beiden Füße, erkannt hatte, oder wirklich erst jetzt; und wenn er’s gleich erkannt hatte, weshalb war er stumm geblieben, warum hatte er die Frau nicht zur Verantwortung gezogen und den Diebstahl nicht gleich angezeigt? Ja, war die Freundschaft mit Richard Kranz wirklich eine Freundschaft gewesen? Ohne Zweifel, einerseits. Aber andererseits: Eine Freundschaft deklariert sich ja gar nicht als Freundschaft, sondern existiert unausgesprochen. Mohaupt beschloss (und wieder freute er sich darüber, über die eigenen Grübeleien hinweg aus den Tatsachen klare und praktische Folgerungen zu ziehen), bei seiner nächsten Reise nach Wien die Adresse des Richard Kranz herauszufinden und sich das Gemälde in der Hausmeisterwohnung näher anzusehen. Einigermaßen beruhigt schob er die leere Kaffeetasse zur Seite und trank dann den Inhalt dreier kleiner Schnapsfläschchen, die die Speisewagenkellner Flacons nennen.
Es verging ein weiteres Jahr in Schweigen. Katherina redete immer seltener über jene bewegten Tage im Frühling 1945, und außerdem
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