Theo Boone und der unsichtbare Zeuge
nicht? Er hatte nichts zu gewinnen, wenn er log, aber viel zu verlieren. Seine Geschichte war glaubhaft. Und sie passte genau zur Theorie der Anklage. Das Problem war nur, dass die Anklage nichts von der Existenz dieses Zeugen ahnte.
Theo hörte zu und fragte sich wieder, was er jetzt tun sollte.
Der Cousin redete immer schneller. Offenbar war der Damm endlich gebrochen, und er wollte reinen Tisch machen. Julio musste sich noch mehr anstrengen, um mit der Übersetzung Schritt halten zu können. Theo tippte hektisch auf seinem Laptop herum und machte sich so viele Notizen wie möglich. Manchmal unterbrach er den Redefluss, bat Julio, etwas zu wiederholen, und dann ging es weiter.
Als Theo keine Fragen mehr einfielen, sah er auf die Uhr und stellte überrascht fest, wie spät es war. Es war nach sieben, und seine Eltern würden nicht begeistert sein, dass er zu spät zum Essen kam. Als er sagte, dass er wegmusste, wollte der Cousin wissen, wie es weitergehen sollte.
» Ich bin mir noch nicht sicher«, erwiderte Theo. » Gebt mir ein bisschen Zeit. Lasst mich darüber schlafen.«
» Aber du hast versprochen, nichts zu erzählen«, sagte Julio.
» Das werde ich auch nicht, Julio. Außer wir– wir drei– einigen uns auf einen Plan.«
» Wenn er Angst bekommt, taucht er unter«, sagte Julio, wobei er mit dem Kopf auf seinen Cousin deutete. » Er darf sich nicht erwischen lassen. Verstehst du das?«
» Natürlich verstehe ich das.«
Das Hühnchen Chow Mein war kälter als sonst, und Theo hatte keinen großen Appetit. Die Boones aßen im Fernsehzimmer von Tabletts. Judge, der sich seit seiner ersten Woche in der Familie geweigert hatte, Hundefutter zu sich zu nehmen, fraß aus seinem Napf neben dem Fernseher. Ihm hatte es nicht den Appetit verdorben.
» Wieso isst du nichts?« Die Essstäbchen seiner Mutter blieben in der Luft hängen.
» Ich esse doch.«
» Du wirkst so bedrückt«, stellte sein Vater fest, der mit einer Gabel aß.
» Ich muss nur an Julio und seine Familie denken. Die haben es wirklich schwer.«
» Du bist wirklich ein lieber Junge, Theo.«
Wenn ihr wüsstet, dachte Theo.
Perry Mason, der in der Schwarz-Weiß-Sendung mitten in einem wichtigen Verfahren stand, war kurz davor, den Fall zu verlieren. Der Richter hatte ihn gründlich satt. Die Geschworenen blickten skeptisch drein. Der Staatsanwalt strotzte nur so vor Selbstbewusstsein. Und dann richtete Mason den Blick auf die Zuschauer und rief einen Überraschungszeugen auf. Dieser trat in den Zeugenstand und erzählte eine Geschichte, die ganz anders war als die vom Staatsanwalt vorgetragene.
Die neue Version klang absolut plausibel. Der Überraschungszeuge hielt dem Kreuzverhör stand, und die Geschworenen entschieden zugunsten von Perry Masons Mandanten.
Wieder einmal ein Happy End. Wieder ein Sieg vor Gericht.
» So läuft das nicht«, sagte Mrs. Boone, wie sie es während jeder Episode mindestens dreimal tat. » Überraschungszeugen gibt es nicht.«
Das war Theos Stichwort. » Aber wenn plötzlich doch ein Zeuge auftaucht? Einer, der für die Wahrheitsfindung wesentlich ist? Einer, von dem keiner etwas wusste?«
» Und wie kommt der in die Verhandlung, wenn keiner von ihm weiß?«, konterte Mr. Boone.
» Was, wenn er einfach so auftaucht?«, hielt Theo dagegen. » Was, wenn ein Augenzeuge aus der Zeitung oder aus dem Fernsehen von dem Prozess erfährt und sich meldet? Einer, von dessen Existenz niemand was geahnt hat. Von dem keiner wusste, dass er Zeuge des Verbrechens war. Was tut der Richter in so einem Fall?«
Es kam selten vor, dass Theo die beiden Anwälte der Familie vor eine Frage stellte, die sie nicht auf Anhieb beantworten konnten. Seine Eltern überlegten. Zu diesem Zeitpunkt wusste Theo zwei Dinge mit Sicherheit: Erstens, dass beide eine Meinung zu dem Thema haben würden. Zweitens, dass sie keinesfalls dieselbe Meinung haben würden.
Seine Mutter äußerte sich zuerst: » Die Staatsanwaltschaft kann einen Zeugen nur aufrufen, wenn er Gericht und Verteidigung vorher benannt wird. Die Prozessordnung sieht keine Überraschungszeugen vor.«
» Aber«, gab sein Vater streitlustig zu bedenken, wobei er seine Frau kaum ausreden ließ, » wenn die Anklage von einem Zeugen nichts weiß, kann sie ihn auch nicht benennen. Bei einem Prozess geht es um die Wahrheitsfindung. Wenn einem Augenzeugen die Möglichkeit verweigert wird auszusagen, ist das Verschleierung der Wahrheit.«
» Vorschrift bleibt Vorschrift.«
» Aber
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