Theo Boone und der unsichtbare Zeuge
überlässt die Entscheidung dem Richter. Man könnte damit argumentieren, dass die Abwesenheit eines wichtigen Zeugen einen Verfahrensfehler darstellt.«
» Und was passiert in einem solchen Fall?«
» Die Anklage wird zurückgenommen und neu erhoben, und es wird eine neue Hauptverhandlung angesetzt.«
» Wann?«
» Das liegt beim Richter, aber so, wie ich Gantry kenne, würde er nicht lange warten. Zwei Monate oder so. Lang genug, damit sich dieser geheimnisvolle Zeuge besinnt.«
Theos Gehirn arbeitete so fieberhaft, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte.
» So, Theo«, sagte Ike. » Die Frage ist, wie du Richter Gantry dazu bringst, das Verfahren für fehlerhaft zu erklären, bevor der Fall an die Geschworenen geht. Bevor die Jury Mr. Duffy freispricht, obwohl er schuldig ist.«
» Keine Ahnung. Da kommst du ins Spiel, Ike. Ich brauche deine Hilfe.«
Ike schob das Buch beiseite und zupfte noch ein Stück von seiner Zimtschnecke ab. Kauend überdachte er die Situation. » Wir gehen folgendermaßen vor«, sagte er dann, immer noch kauend. » Du gehst zur Schule. Ich gehe zum Gericht und sehe mich im Sitzungssaal um, recherchiere weiter und rede vielleicht mit ein paar Freunden. Natürlich ohne deinen Namen zu erwähnen. Glaub mir, Theo, ich passe schon auf dich auf. Kannst du mich in der Mittagspause anrufen?«
» Ja, sicher.«
» Dann ab mit dir.«
» Warum hast du deinen Eltern nichts davon erzählt?«, fragte Ike, als Theo schon an der Tür stand.
» Findest du, ich soll mit ihnen reden?«
» Noch nicht. Vielleicht später.«
» Die haben so strenge Moralvorstellungen, Ike, das weißt du doch. Als Organe der Rechtspflege zwingen sie mich vielleicht, zu sagen, was ich weiß. Die Sache ist kompliziert.«
» Für einen Dreizehnjährigen ganz bestimmt.«
» Da könntest du Recht haben.«
» Ruf mich in der Mittagspause an.«
» Mach ich, Ike. Danke.«
Als Theo in der ersten Pause losstürmen wollte, um April zu suchen, hörte er jemanden am anderen Ende des Gangs seinen Namen rufen. Es war Sandy Coe, der rannte, um ihn einzuholen.
» Theo«, keuchte er. » Hast du kurz Zeit?«
» Äh, ja.«
» Ich wollte dir nur sagen, dass meine Eltern bei dem Insolvenzanwalt, diesem Mozingo, waren. Er ist sich ganz sicher, dass wir das Haus nicht verlieren.«
» Hey, das freut mich, Sandy.«
» Er sagt, meine Eltern müssen ins Insolvenzverfahren – das hast du mir ja alles schon erklärt –, aber am Ende können wir das Haus behalten.« Sandy fischte einen kleinen Umschlag aus seinem Rucksack und gab ihn Theo. » Das ist von meiner Mutter. Ich habe ihr von dir erzählt, und ich glaube, sie will sich bei dir bedanken.«
Widerstrebend nahm Theo das Kuvert entgegen. » Das war nicht nötig, Sandy. Die Sache ist doch nicht der Rede wert.«
» Nicht der Rede wert? Theo, wir können unser Haus behalten!«
Erst jetzt bemerkte Theo den feuchten Glanz in Sandys Augen, der den Tränen nahe war.
Theo klatschte mit ihm ab. » Das habe ich doch gern getan, Sandy. Und wenn ich noch was für euch tun kann, gib mir Bescheid.«
» Danke, Theo.«
Im Sozialkundeunterricht bat Mr. Mount Theo um ein Update zum Duffy-Prozess. Theo erklärte, die Anklage wolle beweisen, dass es in der Ehe der Duffys gekriselt hatte und die beiden sich vor zwei Jahren fast hätten scheiden lassen. Mehrere ihrer Freunde hatten ausgesagt, sich aber Theos Meinung nach in dem unerbittlichen Kreuzverhör von Mr. Nance nicht gut geschlagen.
Für einen Augenblick dachte Theo daran, seinen Laptop zu nehmen und das Verhandlungsprotokoll sozusagen druckfrisch abzulesen, aber dann entschied er sich dagegen. Es war nicht direkt illegal, sich in das System der Gerichtsschreiberin zu hacken, aber ganz astrein war es auch nicht.
Als die Jungen nach Ende der Stunde zur Cafeteria strömten, verschwand Theo in einer Toilette und rief Ike an. Es war fast 12 . 30 Uhr.
» Der wird freigesprochen«, sagte Ike am Telefon. » Hogan kommt mit seiner Anklage nicht durch. Keine Chance.«
» Wie lang warst du da?« Theo zog sich in eine Kabine zurück.
» Den ganzen Vormittag. Clifford Nance ist zu gut. Bei Hogan ist die Luft raus. Ich habe die Geschworenen beobachtet. Die mögen Pete Duffy nicht, sehen aber keine Beweise. Der Mann kommt frei.«
» Aber er ist schuldig, Ike.«
» Wenn du das sagst, Theo. Aber ich weiß nicht, was du weißt. Keiner tut das.«
» Was machen wir?«
» Ich bleibe an der Sache dran. Komm nach der Schule vorbei.«
»
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