Theo
auch er hat den Mund geöffnet, auch er wartet, bis etwas geschieht. Der Unterschied: Er atmet dabei – zwar stockend und nicht sehr tief, aber er hat in jedem Fall den längeren Atem.
Die Konfrontation endet mit dem Geheule der jeweiligen Heulsuse – ein Triumph, der Theo zu billig ist, um gefeiert zu werden. Rasch ist eine Pädagogenhand zur Stelle und räumt die Memme zur Seite. Theo kann somit wieder zur Tagesordnung übergehen. Ein bisschen wundern muss er sich allerdings schon.
Typ zwei: die Quatschbasen. Auch sie sind Theo unabsichtlich unter die Augen geraten und dabei bedrohlich nahe gerückt. Auch sie haben panische Angst vor der Begegnung, treten aber die Flucht nach vorne an – und beginnen belanglose, zumeist unverständliche Laute von sich zu geben, die bestenfalls die Qualität von Worthülsen erreichen. Das klingt dann etwa so: »Da ha bi ma ro la die Oma hat g’sagt da is ein groooooooßer Huwawa hat sie g’sagt der Bub da so grooooooß ha bi ma ro la Huwa …«
Theo hört sich das Gestammel eine Weile an, verfinstert dann den Blick und sagt: »Genug.« Manche Quatschbasen mutieren daraufhin zu Heulsusen und treten plärrend und »Mama« (Papa, Oma …) rufend ab. Manche quasseln ungehemmt weiter. Theo kontert mit dichter und schärfer werdenden »Genug«-Serien. Nützen auch diese nichts, dann beginnt er dezent zuschluchzen. Natürlich nicht, weil er eine Heulsuse ist; eher aus Mitleid, dass sich ganz kleine Kinder schon derart gehen lassen können.
Typ drei: die Greifgeier. Noch sind wir bei den schüchternen, also harmloseren Gemütern. Aber langsam beginnt es Theo körperlich unangenehm zu werden. Denn da laufen Kinder in seiner Welt herum, die ihre Fremdenängste auf physische Art zu überspielen geneigt sind. – Sie grapschen. Und nicht irgendwohin! – Sie grapschen in Theos Gesicht herum, testen, ob die Nase tatsächlich eine Nase ist, prüfen, ob die Ohren auch gut sitzen oder vielleicht nur angeklebt sind, fingern an seinen Lippen herum und nehmen mit den Zeigefingern Anlauf auf die Augen.
Spätestens da grapscht Theo zurück – zugegeben, es ist mehr Klatschen als Grapschen. Aber die Greifgeier müssen offenbar erst seine fünf Finger im Gesicht spüren, ehe sie wissen, dass Theo echt ist. – Und dass er echt nicht daran interessiert ist, diese auf Körperkontakt aufgebaute Bekanntschaft länger als ein paar Sekunden zu pflegen.
Typ vier: die Gierhälse. Schreckliche Kinder! (Immer bereits mit einem Fuß im Kriminal.) Sie sehen in Theo ein Warenlager, das es zu plündern gilt. Sie zerren an seiner Jacke, um sie ihm vom Leibe zu reißen. Sie tasten seine Hosentaschen nach brauchbaren Gegenständen ab. Sie öffnen seine Fäuste auf der Suche nach Spielzeug oder Keksen.
Gegen Gierhälse ist Theo machtlos. Er lässt sich vonihnen ohne Gegenwehr ausrauben. Die Empörung über den dreisten Übergriff raubt ihm die Kraft für rechtzeitige Hilfeschreie. Wenn Theos Alarmgeheule endlich losstartet, fehlt vom Täter zumeist schon jede Spur.
Allerdings versteht es Theo im Anschluss an den Beutezug stets blendend, in die Opferrolle hineinzuwachsen. So kommen die Pädagogen nicht umhin, ihm den materiellen Schaden umgehend zu ersetzen und auf diese Weise die tiefen seelischen Wunden zu lindern. Wurde ihm zum Beispiel ein Keks gestohlen, kriegt er als Entschädigung zwei neue Packungen. (Wenn er älter ist, wird er sich Gierhälse anheuern und vortäuschen, überfallen worden zu sein.)
Typ fünf: die Sturmläufer. – Nicht unbedingt die hellsten Köpfe. Sie sehen Theo von weitem und werden von ihren Pädagogen in oben ausgeführter Weise auf ihn angesetzt. Sie nehmen Anlauf, erreichen Theo, vergessen in der Aufregung zu bremsen, werfen Theo um, stolpern dabei selbst. Beide liegen am Boden, beide plärren. – Jetzt fragen wir Sie: Wozu gibt es solche Kinder?
Typ sechs: die Abfangjäger. – Sturmläufer kommen auch noch in bösartigerer Form vor. Es sind Kinder, die es nicht vertragen, wenn andere Kinder (zum Beispiel Theo) neben ihnen stehen. Sie fühlen sich wohler, wenn diese neben ihnen liegen. Also hauen sie andere Kinder (zum Beispiel Theo) um. Danach lachen sie, als wäre ihnen ein guter Scherz gelungen. Die liegendenKinder dagegen (zum Beispiel Theo) weinen oft bitterlich. Meistens stürmt dann ein ähnlich bösartiger Pädagoge auf seinen kleinen Abfangjäger zu und gibt ihm eine Ohrfeige, offenbar, damit auch dieser weint. – Doch Theo weiß beim besten Willen nicht, wozu
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