Theologisch-Politische Abhandlung: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
angewendet wird, wenn man die Natur aus ihrer Geschichte erklären will. So wie man bei der Erforschung der natürlichen Dinge vor Allem darauf bedacht ist, die allgemeinsten und der ganzen Natur gemeinsamen Punkte zu ermitteln, d.h. die Bewegung und die Ruhe mit den Gesetzen und Regeln, welche die Natur stets beobachtet und nach denen sie ununterbrochen wirkt: und so, wie man von da allmählich zu dem mehr Besonderen vorschreitet, ebenso muss auch aus der Geschichte der Bibel zunächst das Allgemeinste ermittelt werden, was die Grundlage und der Boden für die ganze Bibel ist und das, was in ihr als die ewige und allen Sterblichen heilsamste Lehre von allen Propheten empfohlen wird. Dahin gehört z.B., dass Gott nur als einer und allmächtiger besteht, dem allein die Anbetung gebührt, der für Alle sorgt und der vor Allen Diejenigen liebt, welche ihn verehren und ihren Nächsten wie sich selbst lieben.
Dieses und Aehnliches, sage ich, lehrt die Bibel überall so klar und ausdrücklich, dass dies von Niemand je in Zweifel gezogen worden ist. Wer aber Gott sei, und in welcher Weise er Alles sieht und dafür sorgt, dies und Aehnliches lehrt die Schrift absichtlich und als eine ewige Wahrheit nicht; vielmehr haben die Propheten selbst, wie schon oben gezeigt worden, darin nicht übereingestimmt. Deshalb kann man über Dergleichen keine Lehre des heiligen Geistes aufstellen, wenn man es auch aus natürlichem Licht ganz gut vermöchte.
Nachdem diese allgemeine Lehre der Bibel richtig erkannt worden, muss man zu dem mehr Besonderen übergehen, was auf den gemeinsamen Lebenswandel sich bezieht, und was wie Bäche aus dieser allgemeinen Lehre abfliesst. Dahin gehören alle äussern besondern Handlungen der wahren Tugend, die nur bei passender Gelegenheit geschehen können. Die dabei sich vorfindenden Zweideutigkeiten und Dunkelheiten müssen nach der allgemeinen Lehre der Bibel erklärt und entschieden werden, und bei etwaigen Widersprüchen sind die Gelegenheit, die Zeit und für wen die Bücher geschrieben worden, zu beachten. Wenn z.B. Christus sagt: »Selig sind die Trauernden, denn sie werden Trost empfangen«, so kann man aus diesen Worten nicht abnehmen, welche Trauernde er meint. Allein später sagt er, man solle nur für das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit sorgen, und er empfiehlt es als das höchste Gut (Matth. VI. 33). Daraus folgt, dass Christus unter den Trauernden nur Die versteht, welche um die Vernachlässigung des Reiches Gottes und der Gerechtigkeit durch die Menschen trauern; denn nur dies können Die betrauern, welche blos das göttliche Reich oder die Billigkeit lieben und die übrigen Güter verachten.
Wenn Christus ferner sagt: »Wer Dich auf Deine rechte Wange schlägt, dem halte auch die linke hin«, u.s.w., so würde er, wenn er dies als Gesetzgeber den Richtern geboten hätte, das Gesetz Mosis damit aufgehoben haben; allein da er offen das Gegentheil erklärt (Matth. V. 17), so muss man beachten, wer dies gesagt hat, wann und zu welcher Zeit es gesagt worden; da hat Christus es gesagt, nicht um als Gesetzgeber Gesetze zu geben, sondern als Lehrer von Lebensregeln; er wollte, wie gezeigt, nicht die äussern Handlungen, sondern die Gesinnung verbessern. Ferner sagt er es unterdrückten Menschen, die in einem verderbten Staate lebten, wo die Gerechtigkeit vernachlässigt wurde, und dessen Untergang er herannahen sah. Und so sehen wir, dass dasselbe, was hier Christus bei dem bevorstehenden Untergang der Stadt lehrt, von Jeremias bei der ersten Zerstörung der Stadt, also zu einer ähnlichen Zeit, gelehrt worden ist (Klagen Jerem. III. die Buchstaben Tet und Jot). Da somit dies nur zu Zeiten der Unterdrückung von den Propheten gelehrt worden, da es nirgends als ein Gesetz verordnet worden, vielmehr Moses, der nicht in einer Zeit der Unterdrückung schrieb, sondern, dies halte man fest, einen guten Staat begründen wollte, zwar auch die Rache und den Hass gegen den Nächsten verdammt hat, aber doch Auge um Auge zu nehmen geboten hat: so ergiebt sich aus den Grundlagen der Bibel, dass diese Lehre Christi und des Jeremias über Ertragung des Unrechts und Gestattung der Gottlosen zu Allem nur für Orte gilt, wo die Gerechtigkeit verabsäumt wird, in Zeiten der Unterdrückung, aber nicht für einen guten Staat. Vielmehr ist in einem guten Staate, wo die Gerechtigkeit gehandhabt wird, Jeder schuldig, wenn er sich als einen Gerechten zeigen will, das Unrecht vor den Richter zu bringen
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