Theologisch-Politische Abhandlung: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
eine gewöhnliche Kenntniss, wie die des Knaben, reicht dazu hin, und man braucht dazu weder das Leben noch die Beschäftigungen und den Charakter des Verfassers zu wissen; auch nicht die Schicksale des Buches, nicht die verschiedenen Lesarten und nicht, wie und auf wessen Rath man es aufgenommen hat. Was hier über Erklärung gesagt ist, gilt von allen Schriftstellern über von Natur verständliche Gegenstände; deshalb nehme ich auch an, dass man die Meinung der Bibel rücksichtlich der sittlichen Vorschriften aus ihrer Geschichte, wie wir sie haben, leicht fassen und über ihren wahren Sinn Gewissheit erlangen kann. Denn die Lehren der wahren Frömmigkeit werden in den gebräuchlichsten Worten ausgedrückt, und sie selbst sind sehr bekannt, einfach und leicht verständlich; das wahre Heil und die Seligkeit besteht in der Ruhe der Seele, und man findet diese wahre Ruhe nur in dem, was man klar erkennt. Daraus folgt, dass man die Meinung der Bibel in Betreff der heilsamen, zur Seligkeit erforderlichen Dinge sicher auffinden kann, und man braucht deshalb um das Uebrige nicht so besorgt zu sein, da es meist unbegreiflich und unverständlich ist und deshalb mehr die Neugierde erregt als Nutzen bringt.
Damit glaube ich die wahre Auslegungsweise der Bibel dargelegt und meine Ansicht darüber genügend ausgesprochen zu haben. Ausserdem wird man unzweifelhaft bemerken, dass dieses Verfahren kein Licht ausser dem natürlichen verlangt. Denn das Wesen und die Kraft dieses natürlichen Lichts besteht vorzüglich in Ableitung und Folgerung der dunkeln Dinge aus bekannten oder als solchen gegebenen Schlüssen, und mehr verlangt meine Auslegung nicht. Ich gebe zu, dass sie nicht für die sichere Aufklärung alles Inhaltes der Bibel zureicht; allein dies ist nicht ihre Schuld, sondern kommt davon, dass der wahre und rechte Weg, den sie zeigt, noch niemals gebahnt, von den Menschen nicht betreten und deshalb im Lauf der Zeiten sehr steil und unwegsam geworden ist, wie die von mir selbst bezeichneten Schwierigkeiten klar darlegen.
Ich habe nun nur noch die Ansicht meiner Gegner zu prüfen. Zunächst die, wonach das natürliche Licht keine Kraft zur Auslegung der Bibel haben, sondern ein übernatürliches Licht dazu vorzugsweise nöthig sein soll. Ich überlasse hier meinen Gegnern, dieses über das Natürliche gehende Licht näher zu erklären; denn ich kann nur vermuthen, dass man damit ebenfalls, nur in dunklem Ausdrücken, hat einräumen wollen, dass der wahre Sinn der Bibel meist zweifelhaft sei. Giebt man nämlich auf die Erklärungen meiner Gegner Acht, so findet man, dass sie nichts Uebernatürliches, sondern nur blosse Vermuthungen enthalten. Man vergleiche nur damit die Erklärungen Derer, die offen gestehen, dass sie das natürliche Licht besitzen, und man wird sie diesen sehr ähnlich finden, soweit man dabei vernünftig, bedachtsam und sorgsam verfahren ist. Wenn man sagt, das natürliche Licht reiche dazu nicht aus, so erhellt die Unwahrheit davon theils aus dem früher dargelegten Umstand, dass die Schwierigkeit der Bibel-Erklärung nicht von dem Mangel an Kraft des natürlichen Lichts kommt, sondern nur von der Nachlässigkeit, wenn nicht Bosheit der Menschen, welche die Geschichte der Bibel zu einer Zeit, wo es noch möglich war, nicht ausbildeten, und daraus, dass, wie Alle, glaube ich, einräumen, das übernatürliche Licht ein göttliches, nur den Gläubigen gewährtes Geschenk sein soll, da doch die Propheten und Apostel nicht blos den Gläubigen, sondern hauptsächlich den Ungläubigen und Gottlosen zu predigen pflegten, mithin diese gewiss fähig waren, die Meinung der Propheten und Apostel zu verstehen; denn sonst hätten die Propheten und Apostel Knaben und Kindern gepredigt, nicht vernünftigen Leuten, und Moses hätte seine Gesetze umsonst gegeben, wenn nur die Gläubigen sie hätten verstehen können, die keines Gesetzes bedürfen. Wer daher ein übernatürliches Licht zum Verständniss des Sinnes der Propheten und Apostel verlangt, scheint vielmehr des natürlichen Lichts zu ermangeln, und ich kann unmöglich glauben, dass er eine göttliche Gabe besitze.
Maimonides' Ansicht war eine ganz andere; er fühlte, dass jede Stelle der Bibel verschiedener, ja entgegengesetzter Auslegungen fähig sei, und dass man über den wahren Sinn keine Gewissheit haben könne, bevor man nicht wisse, dass die Stelle in dieser Auslegung nichts enthält, was mit der Vernunft streitet oder ihr widerspricht.
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