Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
bedeutet dies, daß die anderen europäischen Sprachen sukzessive die Kompetenz verlieren, die zentralen Bereiche der modernen Gesellschaft – Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Recht – auch nur terminologisch angemessen auszudrücken, und dies nicht, weil sie dafür keine Worte hätten, sondern weil diese programmatisch verdrängt oder nicht mehr entwickelt werden. Die Sprachwissenschaft bezeichnet dieses Phänomen als »Domänenverlust« einer Sprache und definiert diesen als »Verlust der Kommunikationsfähigkeit in der eigenen Sprache auf allen Ebenen eines Wissensgebietes wegen fehlender Weiterentwicklung der erforderlichen fachsprachlichen Mittel« 62 .
Dabei geht es, um Mißverständnissen vorzubeugen, nicht um einen bornierten Sprachpurismus, sondern um die Tatsache, daß viele europäische Sprachen für entscheidende Bereiche des modernen Lebens schlicht ihre Kompetenz verlieren. Das trifft die kleineren nordeuropäischen Sprachen, aber zunehmend auch das Deutsche und einige romanische Sprachen. Wenn nur noch die schöne Literatur als einziges elaboriertes Betätigungsfeld für die Nationalsprachen übrigbleibt, haben diese aufgehört, integrale Momente der Kultur zu sein. Der Ratschlag an angehende Schriftsteller, doch ihre Romane gleich in Englisch zu schreiben, wenn sie in der ersten Liga mitspielen wollen, wird nicht lange auf sich warten lassen. Die Konsequenz wäre, den alten europäischen Nationalsprachen nur den Status regionaler Dialekte zuzugestehen, der ausreicht, alltägliche Verrichtungen zu beschreiben; sobald es gehoben, professionell, gar wissenschaftlich wird, fehlen die Worte, und man wechselt die Sprache.
Solche Entwicklungen sind nicht neu, und lange hatten das Lateinische als Kirchen- und Wissenschaftssprache, dann das Französische und in Ostmitteleuropa das Deutsche diesen Status als Sprache der Eliten eingenommen. Bislang war die Dominanz gehobener Verkehrssprachen immer verbunden gewesen mit der Dominanz gesellschaftlicher Gruppen, die sich diese Sprache als Herrschaftsinstrument und Distinktionsmerkmal zugelegt hatten. Nun trifft wahrscheinlich zu, daß heute mehr Menschen das Englische beherrschen als seinerzeit das Lateinische oder Französische. Aber solange nicht Englisch für alle die erste Sprache geworden ist – ein durchaus fragwürdiges Ideal –, bedeutet die Dominanz des Englischen die Etablierung einer bevorzugten Sprach- und damit Denkkultur gegenüber den anderen nationalsprachlichen Traditionen.
Freilich erstaunt bei aller Zwangsläufigkeit, die man solchen Prozessen im Kontext der Globalisierung zuschreibt, der beflissene Eifer, mit dem vor allem im deutschen Sprachraum an der Abschaffung des Deutschen als Wissenschafts- und Arbeitssprache gearbeitet wird. Fast scheint es so, als sähen viele Deutsche und Österreicher darin die lange ersehnte Möglichkeit erfüllt, sich endgültig vom Makel des Deutschtums und des Nationalismus zu befreien. Wer im Beruf und zunehmend im privaten Verkehr – hier nicht ohne kokettes Augenzwinkern – dem Englischen den Vorzug gibt, hat sich damit als Bürger einer Weltzivilisation ausgewiesen, den nichts mehr mit dem verbohrten Rest der Bevölkerung verbindet, auch scheint er gefeit vor jeder Form reaktionärer Deutschtümelei. Solche Intentionen mögen aus der historischen Perspektive gute Gründe haben und ehrenwert sein – doch scheinen sie auch motiviert zu sein von einem Haß auf das Eigene, der sich selbst als Ausdruck einer ziemlich bornierten und für Dünkel höchst anfälligen negativen Fixierung erweisen könnte.
Angesichts der Dynamik dieser Entwicklung wird der jüngste Versuch des deutschen Wissenschaftsrates, zumindest in Teilen der Geisteswissenschaft die deutsche Sprache als Wissenschaftssprache zu erhalten, wahrscheinlich vergeblich sein, auch wenn dafür gute Gründe angeführt werden können. Wie dramatisch diese Entwicklung verlaufen ist, wird deutlich, wenn man etwa daran erinnert, daß Hans Georg Gadamer noch in den späten achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zwar die Funktionalität und Notwendigkeit einer Einheitssprache für die Naturwissenschaften unterstrich, für die Geisteswissenschaften dieses Ansinnen aber deutlich zurückwies: »Man wird geradezu sagen dürfen, daß die Vielheit der Nationalsprachen Europas mit dem Faktum der Geisteswissenschaften und ihrer Funktion im Kulturleben der Menschheit aufs innigste verwachsen ist. Man kann sich nicht einmal vorstellen, daß diese
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