Theres
längere Zeit ginge.
Die Kinder spielen. ( Mami, Mami, guck mal, Mami! ) Ulrike dreht sich um. In der mattgleißenden Sonne kommen sie über den Rasen gegangen, eine, gelinde gesagt, bunte Truppe:
MAHLER (in schwarzer Anwaltsrobe und mit passendem Toupet) : Wir haben es zugelassen, dass sie den Mord an Ohnesorg begingen; wir haben es zugelassen, dass sie die Schüsse auf Dutschke abgaben.
ENSSLIN (das lange blonde Haar um die Schultern wedelnd) : Wir haben es zugelassen, dass sie Staudämme und Wasseranlagen zerstörten, dass sie die gesamte ökonomische Basis ebenso wie die Infrastruktur der jungen lateinamerikanischen Staaten zerstörten.
BERBERICH (die Akten gegen Baader in der Tasche) : Wie lange wollen wir uns noch demütigen lassen?
BÄCKER (die eiserne Axt erhoben) : Die Massen sind bereit, die Arbeiter haben sich schon gerüstet.
HOMANN (in üblicher Verwirrung) : Wenn nicht jetzt, wann dann; wenn nicht hier, wo dann?
Ein Stück weiter weg hat sich auch das sozialistische Patientenkollektiv zu einem Picknick unter Leitung des charismatischen Dr. Huber versammelt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich auch diese Mitglieder der Parade anschließen, skandierend:
Mahler-Meinhof-Ensslin-Baader,
das sind die Namen unsrer Kader!
Ulrike ruft: Ich komme, Bettina ; dreht sich dann wieder ihren Gesprächspartnern unter dem Sonnenschirm zu:
Nur ein paar Tage; dann komme ich zurück und hole sie wieder nach Hause.
Karneval
in der Miquelstraße
Ulrike befindet sich bereits im Lesesaal, als der Gefangenentransporter aus Tegel eintrifft. Durch das Fenster kann sie sehen, wie Baader, an einen seiner Bewacher gekettet, hinausgeführt wird. Der andere Bewacher schließt das Auto ab und eilt voraus zum Eingang. Im Gebäude ist ein gedämpfter Summton zu hören. Ulrike sitzt da, vor sich das Totenbuch aufgeschlagen. Durchs Fenster sieht sie auch den Goldregen blühen, frisch ausgeschlagene Birken bewegen sich in einer schwachen Brise. Es ist wie im Fernsehen, denkt sie. (Die Wirklichkeit findet dort draußen statt, hier drinnen ist nichts wirklich.) Derselbe Gedanke war ihr bereits vor ein paar Monaten gekommen, als sie die fertig geschnittene Version von Bambule anschaute. Auf dem Bildschirm war Irene auch Irene , Ingrid Ingrid und Hannelore Hannelore . Das Anstaltspersonal hingegen bestand nur aus Schauspielern, die man angeheuert hatte, um die Fernsehzuschauer zu überzeugen, dass die Parodie, die sie aufführten, die »Wirklichkeit« darstellen sollte. Denkt: Wenn all das nun verschwindet; alle Kulissen, alle vor ihnen agierenden Statisten: was könnte dann wohl geschehen mit unserer Vorstellung von der Wirklichkeit? Ingrid, Irene, Hannelore: am Ende frei.
Denkt jetzt dasselbe, als Baader, an seinen Bewacher gefesselt, in den Lesesaal geführt wird; denkt: Die stellvertretenden Werkzeuge der Macht, gehorsame Lakaien; »Statisten«. Es wird irgendwie leichter, damit umzugehen, wenn man so an sie denkt. Sie sagt zu dem einen: Wie heißen Sie? Wetter, Günter Wetter. Sind Sie verheiratet, Herr Wetter? Ja, ich habe Frau und Kinder, zwei. Sie schließt die Augen, sagt: Ist Ihnen da niemals in den Sinn gekommen, Herr Wetter, dass Sie vielleicht ein bisschen mehr Rücksicht auf sie nehmen müssten?
In der Zwischenzeit hat der andere Beamte, ein »Statist« mit Namen Karl-Heinz Wegener, die Handfessel von Baaders linker Hand gelöst, und Baader hat Platz genommen. Ulrike breitet die »Totenbilder« aus,eine ganze Doppelseite mit Bildern junger Männer und Frauen, deren Gesichter von den Faustschlägen und Zigarettenbrandmalen der Polizisten geschwollen und deformiert sind. (Denkt: Das wahre Bild vom Elend des Tierreichs ).
Baader: Könnte man vielleicht eine Tasse Kaffee bekommen?
Baader und Meinhof stecken sich eine Zigarette an. »Die Statisten« bringen den Kaffee.
*
(Andreas zu Ulrike, Ulrike zu Andreas)
ANDREAS : Und wo sind deine kleinen Freundinnen?
ULRIKE : Sei so nett und rede nicht so laut. Ingrid und Irene sind gleich hier. Sie waren schon bereit, als ich losgefahren bin.
*
Der Summton erklingt aufs Neue. Einer der »Statisten« – der Institutsangestellte Georg Linke (62) – verlässt sein Büro, wo gerade das restliche Personal die Kaffeepause beginnt, und begibt sich zur Eingangstür. Draußen stehen zwei junge Frauen. Fände das jetzt im Fernsehen statt, hätten wir Linke sprechen hören (Linke: Tut mir leid, wie ich euch schon gestern gesagt habe, ist der Lesesaal besetzt; kommt am
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