Theres
beiden geparkten Wagen der Motor bereits gestartet …
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( Doch läuft das hier nicht im Fernsehen. ) Ulrike ist mitten im Lesesaal stehen geblieben. Die Hände vor den Ohren, den Blick zum Fenster, schreit sie: Verdammt, schieß nicht! Im selben Augenblick, als der Mann mit der Maske die Tränengaspistole hebt (Er sagt: Lass los . Wetter: Ich lass dich nicht los, du Scheißkerl ) und schießt. Wetter krümmt sich, die eine Hand vorm Gesicht, die andere in der Luft fuchtelnd; und Ulrike (sieht ihn langsam zusammensinken): schreit erneut, und wäre mit Sicherheit dort stehen geblieben, hätte Ensslin sie nicht brutal zum Fenster gestoßen. Durch den schweren Tränengasnebel erscheint das Fenster nicht wie ein möglicher Fluchtweg, nur wie ein leeres schwarzes Loch, durch das ihr nur bleibt hindurchzukriechen, als alles um sie zusammenstürzt.
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SO UNEMPFINDLICH ZU SEIN, DASS MAN DAS
WICHTIGSTE VERACHTET. UNEMPFINDLICH
ZU WERDEN FÜR DAS, WAS EINEM MEHR
BEDEUTET ALS ALLES ANDERE.
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(Es war Blut an dem Typen, eine verdammte Menge Blut !)
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Ulrike, halb liegend auf dem Rücksitz eines weißen Alfa Romeo Giulia Sport ; im Rückspiegel kurz Astrid Prolls erschrockener Blick. Rasende Kopfschmerzen, tränende Augen. Alles in Bewegung aufgelöst; alles Feste verschwindet.
Kurze Unterbrechung
der Sendungen
Ulrike in ihrer Zelle. Regen läuft über den oberen Teil einer nach außen gekippten Fensterscheibe. Adernetz, Rissmuster. Im Glas zeichnen sich auch die roten Reflexe eines Stroms von Autos ab, die irgendwo tief unten vorbeirollen. Aus Tausenden von Radios erklingt Musik, This is the dawning of the Age of Aquarius, the Age of Aquarius … ; die Musik wird langsam heruntergefahren: Aufgrund einer Fahndung der Berliner Polizei unterbrechen wir jetzt kurz unsere Sendungen:
Am Donnerstag, dem 14. Mai, kam es gegen 11.00 Uhr anlässlich der Ausführung des Strafgefangenen ANDREAS BAADER in Berlin-Dahlem, Miquelstraße 83, zu seiner Befreiung durch mehrere bewaffnete Täter, wobei der am Institut für soziale Fragen tätige GEORG LINKE durch mehrere Pistolenschüsse lebensgefährlich verletzt wurde. Auch zwei Justizvollzugsbeamte erlitten Verletzungen. Der Beteiligung an der Tat dringend verdächtig ist die am 7. Oktober 1934 in Oldenburg geborene Journalistin ULRIKE MEINHOF , geschiedene RÖHL . Personenbeschreibung: Alter 35, 1,65 m groß, normaler Körperbau, langes mittelbraunes Haar, braune Augen. Die Gesuchte hat am Tattag ihren Wohnsitz in Berlin-Schöneberg, Kufsteiner Straße 12, verlassen und ist seitdem flüchtig. Wer kann Hinweise auf ihren derzeitigen Aufenthaltsort geben?
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Berlin-Schönefeld, Juni 1970. Blassblauer Himmel, der Flugzeugtreibstoff bringt die stillstehende Luft über der Startbahn zum Zittern. Seit Tagen haben die Zeitungen nichts anderes getan, als von der Fußball- WM in Mexiko City zu berichten, und weil die Gruppe beim Warten auf den weiteren Transport nach Osten nichts anderes zu tun hat, als fernzusehen und Zeitung zu lesen, kennt sie die Ergebnisse zu diesem Zeitpunkt auswendig (Die Enttäuschung: Nur 2-1 gegen Marokko? wird abgelöst von Freudentaumel: 5-2 gegen Bulgarien! ), aber das Team Maier, Beckenbauer und Müller muss sich in diesem Monat durch die Aufstellung einer anderen Mannschaft geschlagen geben. Im Urlaub ist auf einem handgeschriebenen Schild an Horst Mahlers Büro in Berlin zu lesen; er und seine Referendarin Monika Berberich führen ihre jeweilige Schar bei zwei separaten Flugreisen an: die eine nach Beirut, die andere nach Damaskus. Für die Flüge gebucht (wenn auch unter anderen Namen): Brigitte Asdonk , Manfred Grashof , Petra Schelm , Andreas Baader , Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin . Peter Homann , wie üblich der Letzte im Bunde, schließt sich ein paar Tage später an.
Nicht einmal, als die Maschine auf die Startbahn rollt, vermag sich Baader von seiner Lektüre loszureißen: Müller-Tag in Mexiko: Drei Tore! schreit er laut (das Ergebnis des Spiels gegen Peru), und dann – LINKE !: beim Anblick einer kleinen Notiz, die mitteilt, dass der Institutsangestellte Georg Linke noch immer im Krankenhaus liegt, nachdem man ihm eine Kugel aus der Leber operiert hat, LINKE – ich kann nicht glauben, dass das wahr ist: so als hätten wir die gesamte scheinheilige deutsche Linke angeschossen.
Ulrike, die nach ihm die Zeitungen übernimmt, sieht andere Dinge: Außenminister Brandt trifft den DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph in Kassel. Händedruck;
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