Theres
können in der augenblicklichen Situation – leider, bin ich versucht zu sagen – deine Kontakte nicht entbehren.
Dunkelkammer
Nach abgeschlossener Sortierung der Funde und provisorischer Einkreisung der »Natur« der Täter macht sich Herold an die »Beweislast«, und die zu schultern ist wirklich eine schwere Last. Von Andreas Baaders Befreiung bis zur Ergreifung des Kerntrupps der RAF (Baader, Raspe, Ensslin, Meins und Meinhof ) im Juni 1972 vergeht kaum ein Tag ohne einen Zwischenfall, der dieser Kampforganisation zugeschrieben werden kann: ein Banküberfall, ein Attentat, ein Einbruch, ein Autodiebstahl, ein dramatischer Schusswechsel. Die Anschläge ereignen sich scheinbar wahllos, verteilt über Orte in ganz Westdeutschland: Ingolstadt, Neuenkirchen, Stuttgart, Kaiserslautern, Frankfurt, Hannover, München. Die Karte der Bundesrepublik gleicht zu dieser Zeit einem wehrlosen Versuchstier, das, in Erwartung des nächsten Eingriffs, auf dem Dissektionstisch festgeschnallt ist (Herolds Vergleich). Um mit diesem umfangreichen Material zurechtzukommen, gruppiert er die Ereignisse nach verschiedenen Richtlinien:
Nach dem geographischen Verbreitungsgebiet (um die Route der Täter zu ermitteln und, wenn möglich, jenen beizukommen, die ihnen Häuser oder Wohnungen überlassen hatten)
Nach der Art des Anschlags (um das Motiv zu ergründen, gesetzt den Fall, es hat nicht nur den trivialen Grund, an mehr Geld zu kommen)
Nach dem Charakter der Straftat (geordnet in einer siebengradigen Skala, von »Diebstahl« bis zu »vorsätzlichem Mord«)
Eine Spalte weist die Zeitfolge auf, und aus dieser geht deutlich hervor, dass die Aktionen bis zum Vorsommer 1972 immer mehr eskalieren. Die Gruppe ist offenbar immer besser organisiert – und mit mehr Mitteln ausgestattet. Ein neuer Zugang zu beruflichen Spezialkenntnissenführt ebenfalls zu einem Ausschlag auf der Frequenztabelle. Demzufolge ist:
EINKAUFSLISTE
20g roter Phosphor
250g Schwefel
250g Kaliumchlorid (Desinfektionsmittel)
500g Nitrokohlenwasserstoff
4 Batterien
Klebeband, Mullbinde, Stromkabel
eine Uhr
mit folgenden »Zwischenfällen« abzustimmen:
Item 22. Dezember 1971 : drei Bombenexplosionen im Hauptquartier der US-Army in Frankfurt am Main; ein Toter, dreizehn Verletzte
Item 12. Mai 1972: Bombenexplosion in der Augsburger Polizeidirektion; fünf Polizisten verletzt
Item 12. Mai 1972: Bombenexplosion im Landeskriminalamt München; keine Verletzten (da die Bombe auf dem Parkhof explodiert); sechzig Autos total demoliert
Item 15. Mai 1972: eine Bombe explodiert im Wagen des Bundesrichters Wolfgang Buddenberg; Buddenbergs Ehefrau schwer verletzt
Item 19. Mai 1972: zwei Bomben (von fünf ) detonieren im Hamburger Springer-Hochhaus; siebzehn Personen verletzt, zwei davon schwer
Item 19. Mai 1972: heftige Bombenexplosion im Europa-Hauptquartier der US-Army in Heidelberg; drei Tote, mehrere Verletzte
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Für bestimmte schwere oder allgemein heikle Fälle richtet Herold besondere Dossiers ein (sogenannte Informationsdepots ), denen er Stück für Stück anderes potentiell relevantes Material hinzufügt:
Item 22.Dezember 1971 : Banküberfall in Kaiserslautern.
Beute: 133.987 DM
Ein Toter: Polizeibeamter Herbert Schoner (siehe unten)
An dem fünfzehnseitigen Polizeibericht hängt ein Zeitungsausschnitt: »BAADER-MEINHOF-BANDE MORDET WEITER: EINE WITWE UND ZWEI KLEINE KINDER BLEIBEN ZURÜCK« ( Bild , 23.12.1971), und an diesem seinerseits: die Xerokopie eines Artikels des Schriftstellers Heinrich Böll, publiziert in Der Spiegel (10.1.1972), betitelt: WILL ULRIKE GNADE ODER FREIES GELEIT ? , an dessen Rand Herold gekritzelt hat: »Bölls Beziehungen zu M. DDR -Schriftstellerverband. Zusammenhang mit Bukowski-Fall prüfen (gefolgt von vier dicken Ausrufezeichen)«
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Herold liest normalerweise keine Zeitungen (er braucht es nicht, hat dennoch Zugang zu jeder notwendigen Information), doch nach dem Polizistenmord in Kaiserslautern und der Eskalation (Herolds Ausdruck) des Kampfes zwischen BKA und RAF wird die Zeitungslektüre ein unausweichlicher und immer zeitraubenderer Teil seiner polizeilichen Tätigkeit. Eine nützliche Lektion auch für den Versiertesten. Herold blättert Seite für Seite um und muss sich am Ende eingestehen, dass er nach Beendigung der Lektüre den »Fall«, der ihn zurzeit Tag und Nacht beschäftigt, kaum wiedererkennt.
Trotz des routinemäßigen, fast asexuellen Charakters der Polizeiarbeit ist Herold primär am Menschen
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