Theres
Angehörigen zu empfangen, und zwar eine begrenzte Zeit und unter ständiger Bewachung; stattdessen erlaubt: unbegrenzten Zugang zu haben zu Dekreten und Bulletins, herausgegeben von der neueingerichteten Kontaktzentrale in Hamburg (Kanzlei des Anwalts Kurt Groenewold)
Die Anwaltraben lauschen dem, was sie zu sagen hat. Sie verliert Worte; was sie davon haben wollen, picken sie auf; kommen die Worte dann zurück, sind sie zerkaut, deformiert und stets begleitet von dieser oder jener Aufschrift, signiert von Baader oder Ensslin: Das ist das Material, mach etwas daraus.
Und Ulrike an ihrer schwarz-weißen Schreibmaschine; denkt: muss wieder schreiben lernen, buchstabieren:
IN.
INTERN.
INTERNAT.
INTERNATIONAL.
IN : das sind die eintreffenden Bulletins. INTERN : die Aufgaben, von denen sie Kenntnis haben darf, nebst der Diskussion, die sie unter den Gefangenen möglicherweise auslösen. INTERNAT : ist der Ort, an dem sie sich aufhält, ebenso wie die anderen politischen Gefangenen (aus Sicherheitsgründen verteilt über Gefängnisse in der ganzen Bundesrepublik). INTERNATIONAL : sind die globalen Ziele und Mittel des Kampfes, auch bei Aktionen, die nur in der Schrift zum Ausdruck kommen, in Form von Pressemitteilungen, Petitionen und Appellen.
Ulrike handhabt die Worte wie bei einem Legespiel, bei dem die Instruktionen durch ein vorab aufgestelltes Regelwerk gegeben sind. Senkrecht, waagerecht: Kombinationsmöglichkeiten unendlich, nur dürfen keine Leerstellen bleiben. Schwarzes Feld wechselt mit weißem. Doch hinter den Worten liegt nichts Weißes, nichts Schwarzes: nur eine große Leere, unmöglich, sie zu füllen, da sie unmöglich zu ermessen ist. Die Realität setzt keine Grenzen; das tun allein die Bedingungen,und die Bedingungen werden zur Zeit von anderen definiert.
*
Sie darf Besuch von den Kindern empfangen. Auch sie hängen einen Augenblick im Netz. Wenn auch auf dessen Außenseite, und sie starren sie an mit Augen, die das, was sie auf der Innenseite sehen, nicht wiedererkennen.
BEIM HINÜBERGEHEN AUS DER NATUR
INS SEIN SIND DIE MAUERN
NICHT EBEN ZARTFÜHLEND
Sie lernt. Ihre Gesichter sind größer, als Ulrike sie in Erinnerung hat, aber als sie zu ihnen spricht, ist es, als wären die Kinder noch immer klein, ihre Forderungen und Wünsche noch möglich zu erfüllen. Dennoch ist es, als würde sie die Worte nur passiv an sich vorüberziehen lassen; dies und das über Kleinigkeiten, immer mit demselben Subtext: denkt an mich; haltet mich fest; seid mit mir, auch wenn ich nicht mit euch bin.
Die Leere nach der Besuchszeit: eine andere Leere. Schlimmer.
*
Sie lernt. Sie lernt nicht.
Eines Morgens, Post von Ensslin:
Was du geschrieben hast, ist einfach nur SCHEISSE !
Dein Kopf ist voller SCHEISSE !
Was haben wir für Nutzen von dir, wenn deine Anstrengungen nur darauf hinauslaufen, andere mit DEINER SCHEISSE zu verpesten!
Auch die Anwälte äußern Unzufriedenheit: Sie reden davon, die Aktionen an deutlicher abgegrenzte Zielgruppen zu richten. Öffentliche Unterstützung schafft man nicht im Handumdrehen: es erfordert Willen,Zielbewusstsein, harte Arbeit. Aber was wissen sie davon, wenn das Einzige, was sie können, das Rascheln mit Dokumenten ist? Trotz allem »engagierten« Gerede über den Aufbau eines legalen Arms der RAF spürt Ulrike sehr deutlich, wie der Abstand zunimmt – der Abstand zwischen ihnen und ihr. Sie haben nie aktiv am Kampf teilgenommen und werden es nie tun. Für sie ist die Umgruppierung, die Rekonstruktion der Struktur sekundär im Verhältnis zu dem, was das einzige übergreifende Ziel der Organisation sein muss: Den Imperialismus zu bekämpfen. Kurz gesagt: Ebenso gut hätten sie sich mit Vogelkunde oder Briefmarkensammeln beschäftigen können. Ungeachtet dessen hatten sie ihre Unzufriedenheit geäußert, denn in Ermangelung eines echten Engagements (das sieht Ulrike jetzt deutlich) können sie nur durch das Aussprechen von Unzufriedenheit dem Ausdruck geben, was sie unter Festigkeit und Willen verstehen. Entsprechend derselben Logik muss die Unzufriedenheit dann gegen sie, Ulrike, gerichtet werden, ganz einfach deshalb, weil in ihr, in ihren Worten die Kampforganisation Form annimmt und nach außen sichtbar wird.
Sie denkt: Aber ich kenne euch, ihr seid weder warm noch kalt; euer laues Handeln bewirkt, dass ich euch am liebsten ausspeien möchte. Als dieser Gedanke erst gedacht ist, wird der Abstand noch größer.
*
Trotz der Isolation gibt es eine
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