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Theres

Theres

Titel: Theres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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RECHT, MICH HIER EINGESPERRT ZU HALTEN !
    Und aufs Neue: Besinnung. Nutze die Zeitfolgen, bis sie glatt werden wie Geländer, Leitstangen und halt dann beharrlich daran fest. Sie steht vom Bett auf, geht zum Schreibtisch; steht auf, setzt sich an den Schreibtisch; steht auf, setzt sich wieder, schreibt:
    Liebe Bettina und liebe Regine,
    sorgt dafür, dass ihr nicht nur älter, sondern auch klüger werdet, so dass ihr begreift, worauf das Ganze hinausläuft. Sklaven sind wie Flugsand, und auf Flugsand kann man keinen Sieg gründen.
    Warum resigniert ihr dann nicht wie alle anderen? Seht mich an. Ich habe Widerstand geleistet, als sie mich schlugen. Wollt ihr auch geschlagen werden?
    Ihr seid zwei tüchtige kleine Kinder. Ihr habt etwas Besseres verdient. Was ihr nicht alles werden könnt. Wenn ihr euch anpasst, könnt ihr es sicher sogar zu Gefängnisaufseherinnen bringen. Dann könnt ihr auch solche wie mich bespucken.
    Gott, ich kann nicht mehr schreiben.
Auch die Sprache ist schizophren.
Ist man tot, wenn sie einem sogar die Sprache kaputtgemacht haben?
    *
    Andreas, wenn du dort drüben bist. Warum hilfst du mir nicht? Wir können doch wohl wenigstens Mikado spielen?
    Ulrike, ich will, dass du präzisierst, wen du anklagst. Klagst du mich an oder Gudrun oder die gesamte Kampforganisation?
    Wir können doch wohl Mikado spielen? Bitte, können wir das nicht tun?
    Dann bin ich die Stäbchen, und du kannst mich zusammensuchen. Du warst doch so gut darin, Leute zusammenzusuchen.
    *
    Willst du Lob hören? Der Wunsch nach Lob ist ein egozentrisches kleinbürgerliches Laster, um jeden Preis seine individuelle Eigenart bestätigt zu bekommen. Bist du in diesen Sumpf geraten, Ulrike, und willst nun auch, dass ich dich dafür lobe, dass du deinen kleinen bürgerlichen Krämerkindern schreibst?
    Ich muss wissen, in welchem Verhältnis ich stehe, zu dir, zu den anderen Mitgliedern der Gruppe.
    Wurde Abraham von seinen Söhnen je gefragt, ob er sie richtig erzogen hat?
    Das ist jetzt anders. Sie haben mein Bild.
    Das ist nicht anders. Du bist dein Bild.
    Ich fordere nur mein Recht, wie ein Mensch behandelt zu werden.
    Wenn du auf Anständigkeit aus bist, hast du den falschen Beruf gewählt.
    Was zählt dann, wenn nicht Anständigkeit?
    Hör mir zu, Ulrike. Nichts in dir ist bisher gefangen. Aber es ist deine Entscheidung, ob du dich auch in Zukunft demütigen lassen willst, oder ob du es vorziehst, den Kampf zu vollenden. Im Falle des Letztgenannten musst du mit dem brechen, was dich noch immer an sie bindet. Bist du bereit, dieses Opfer zu bringen, bist du nach wie vor frei.

Von weißer Weihnacht
bis Schwarzem September

    Die schwarzen Anwaltraben flattern herein. Lassen sich auf allen Absätzen und Vorsprüngen der Zellenwand nieder, falten die Flügel auf dem Rücken, drehen und wenden die Köpfe und sehen mit strengen, schulmeisterlichen Blicken auf sie hinunter. Lustlos teilen sie etwas von der Information mit, die sie unterwegs aufgeschnappt zu haben meinen: die Situation prekär, doch in keiner Weise akut. Es gilt, darauf zu bestehen, dass das kommende Verfahren ein politischer Prozess ist: keinerlei Anklagen bestätigen, dass kriminelle Handlungen begangen wurden, sondern alles auf das größere Verbrechen zurückführen: den Krieg der USA in Vietnam, die Ausbeutung der Armen in der Dritten Welt, die anhaltende Demoralisierung der arbeitenden Massen. Mit diesem Ziel: die Basis erweitern; neue Strukturen aufbauen; auf absolutem, juristischem Einblick bestehen; mit gezielten Appellen versuchen, die öffentliche Meinung für die Aufhebung der Isolationsfolter politischer Gefangener zu aktivieren. Die Anwaltraben ziehen die Fäden zwischen sich; schaffen neue Zusammenhänge. In dem neugewebten Netz hat auch Ulrike einen Platz, eine Funktion zu erfüllen.
    Festgestellt wird:
    Ihr ist nicht erlaubt: sich mehr als höchstens eine Stunde pro Tag außerhalb der Zelle aufzuhalten, und zwar begleitet von mindestens zwei bewaffneten Wärtern ; stattdessen erlaubt : eine Reiseschreibmaschine (schwarz-weiß), Schreibmaschinenpapier; voller Zugang zu der von ihr als notwendig erachteten Literatur
    Ihr ist nicht erlaubt: Mitteilungen, schriftliche oder mündliche, mit ihren Mitgefangenen auszutauschen; stattdessen erlaubt: volle Unterstützung durch Anwälte zu erhalten, mit dem Recht, dieselben bei Bedarf zu jeder Tages- und Nachtzeit zu kontaktieren und zu konsultieren Ihr ist nicht erlaubt: anderen Besuch als den der nächsten

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