Thomas Mann - Ein Portraet fuer seine Leser
Roosevelt, der Thomas Mann für einen Tag ins Weiße Haus eingeladen hatte[ 43 ] und für ihn der entscheidende Gegenspieler Hitlers war, eine Lichtgestalt, die gegen die Macht der Finsternis antrat.
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Mythos
Mythen sind sinngebende Geschichten, Gründungsmuster allen Geschehens. Sie erzählen von der Erschaffung der Welt und von ihrem Ende, von der Verführung, von Lust und Trunkenheit, vom Ehebruch, von der Entmannung und vom Inzest, von Brudermord, Vatermord und Muttermord, von Tod und Auferstehung, von Himmel und Hölle, Elysium und Hades und davon, wie das Böse in die Welt kam. Sie erzählen von himmelschreienden Verbrechen und kraß fehlgeleiteter Sexualität. Sie eignen sich deshalb vorzüglich, als Ausdrucksformen für das sonst nicht Ausdrückbare, für das Verdrängte einer Kultur zudienen. Genüßlich kann Thomas Mann in den Tabuzonen einer gesitteten Gesellschaft herumspazieren, wenn er, gedeckt vom Mythos, ja sogar von der als heilig geltenden Schrift des Alten Testaments, von Urvater Abrahams zwei und Urvater Jaakobs vier Frauen erzählt, vom Betrug an Esau und von der ungerechten Verstoßung Ismaels, von Noahs Trunkenheit, Chams Schamlosigkeit und von Ruben, wie er sich mit seines Vaters Nebenfrau vergaß.
Für alle Verfehlungen, auch die nur gedachten, gibt es bindende Muster. Der Mythos bildet eine Palette von Vorbildern aus. Alles Handeln ist nur Wiederholung. Jeder Typus sucht sich seinen Prototypus. Es gibt nach den urzeitlichen Gründungen nichts Neues mehr, allenfalls kleine Variationen des Altvertrauten. Im Mythos ist alles jederzeit und überall, so wie es sich dem Auge eines Gottes zeigen mag, dessen Erkenntnisorgane von Raum und Zeit unabhängig sind. Das schafft für den Erlebenden eine Art Sicherheit. Wenn er sein Muster gefunden hat, dann weiß er, ob er Kain oder Abel ist, Isaak oder Ismael, Jaakob oder Esau, Jesus oder Judas. Wenn sie ihr Muster gefunden hat, weiß sie, ob sie Eva ist oder Maria, Hagar oder Sarai, Lea oder Rahel, Asnath oder die Frau des Potiphar. Auch die Rolle der Bösen muß gespielt werden, auch sie gibt dem Leben Sinn.
Die mythische Welt des Joseph-Romans umfaßt nicht nur die Urvätergeschichten des Alten Testaments, sondern auch die sie umgebenden Götterund Heldengeschichten Babyloniens und Ägyptens. Schattenhaft und anspielungsweise sind ferner die Götter Griechenlands und die Ausformungen desMythos im Christentum präsent. Christus erscheint, wie der babylonische Tammuz, wie der ägyptische Osiris, als Zerrissener und wieder vom Tode Auferstandener, und Joseph, der nach Ägypten verkauft und in einen von einem Stein bedeckten Brunnen geworfen wird, ist ein Prototypus Christi, der für dreißig Silberlinge verkauft und in ein mit einem Stein verschlossenes Grab gelegt wurde. Über und unter allem realen Geschehen laufen schattenhafte Geisterwelten mit, in denen sich alles simultan noch einmal auf jüdisch, babylonisch, ägyptisch, griechisch oder christlich abspielt.
Der immense Beziehungsreichtum, der dadurch entsteht, zeigt Thomas Mann auf der höchsten Höhe seiner Kunst. Handelte es sich bisher, etwa im
Tod in Venedig
oder im
Zauberberg
, nur um mythische Anspielungen zu Geschichten, die in der Gegenwart spielten, wagte er sich nun in die mythische Welt selber hinein, ins zweite vorchristliche Jahrtausend. Um den Mythos erzählbar zu machen, wählt er nicht nur eine moderne Erzählerfigur, die alle Erkenntnisse der Bibelkritik, der Altorientalistik und der Ägyptologie am Schnürchen hat, sondern läßt auch seinen Joseph an einer Grenze stehen, von der an der Mythos nicht mehr als dummer und dumpfer Aberglaube funktioniert, sondern als helle und kluge Erkenntnis. In diesem Joseph ist der Mythos zum Bewußtsein seiner selbst gekommen. Darum ist der Roman auch kein dröges Lehrbuch der Mythologie geworden, sondern ein von Witz und Ironie funkelndes Kunstwerk, das ein von Wiederlesen zu Wiederlesen steigendes Vergnügen bereitet.
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Der Sinn der Welt
«Verstehen» ist heute ein verwahrloster Begriff. Man «versteht» alles Mögliche, ohne das Verstehen selbst zu verstehen. In der Praxis bedeutet das Wort meistens nur, etwas in Kontexte einordnen zu können – zum Beispiel zu der Formel E = mc 2 die dazugehörige Physik erklärt zu bekommen. Im Joseph-Roman liegt aber ein viel umfassenderes System des Verstehens vor – eine Welthermeneutik, die allem, was immer geschehen kann, einen Sinn gibt. Es ist weniger eine horizontale als eine vertikale
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