Thorn - Die letzte Rose
des Obelisken, auf dem immergrüne Bodendecker pflegeleicht vor sich hin wucherten. Thorns Ziel war jedoch nicht das Portal, sie drängte sich hinter den Obelisken, in die Hecke hinein.
Geknickte Äste verrieten ihr, sie war weder die Erste, die das tat, noch würde sie die Letzte sein; ein und derselbe Körper hatte sich im Laufe der Jahre einen schmalen Gang gebrochen, fast einen Tunnel.
„Bruno!“ Sie sprach den Namen französisch aus, während sie mit der Faust laut polternd gegen die Rückwand des Obelisken schlug. Und abermals: „Bruno!“
Keine Reaktion, nicht das geringste. Lediglich der eine oder andere Vogel in der Nähe wurde durch ihr Gebrüll aufgeschreckt.
„Bruno, ich weiß, du bist hier!“ Ihre Stimme hätte selbst einen Toten geweckt, im wahrsten Sinne des Wortes.
Abermals nichts.
„Ich kann die Tür auch sprengen, wenn dir das lieber ist“, schrie sie drohend. „Du weißt, wir haben unsere Spezialisten, die so was vertuschen. Eine explodierte Gasleitung, ein Meteorit ... Niemand wird erfahren, dass ich dich ausgeräuchert hab.“
Innerhalb des Obelisken begann sich etwas zu rühren. Es rumorte, und ein dumpfes Klopfen erklang, wie wenn jemand mit dem Kopf gegen die Wand stieß.
Thorn entschied, sich nicht lumpen zu lassen und noch einen drauf zu legen: „Ich könnte den Eingang auch zubetonieren lassen, wenn dir das lieber ist. Wie lange kann ein Lamier eigentlich ohne Nahrung überleben? Oh, verzeih. Ich hab ganz vergessen, dass du ja schon tot bist. Also, Bruno - du hast noch genau eine Minute, bis ich ...“
„Ja, ja“, erklang eine Stimme aus dem Obelisken, dumpf und brüchig. „Kann man nicht mal am Tag schlafen?“ Fast gleichzeitig bewegte sich die steinerne Rückplatte an dem Pfeiler; ein winziger Spalt von lediglich wenigen Millimetern öffnete sich, doch das genügte.
Trotz ihrer Anspannung musste Thorn grinsen. Bruno wohnte also noch in der Gruft, aus der er einst einen fetten Ghoul vertrieben hatte. Fast hatte sie schon angenommen, er sei umgezogen.
Er war von seiner Herkunft Belgier, obgleich es Belgien bei seiner Geburt noch nicht gegeben hatte. Und er war eine jämmerliche Erscheinung. Obwohl ebenso stark wie seinesgleichen, war er ausnehmend feige und weigerte sich standhaft, das für ihn lebensnotwendige Blut bei Menschen zu holen, wahrscheinlich weil er einst übel von ihnen zugerichtet worden war. Seitdem bediente er sich bei Ratten und streunenden Katzen, oder er brach in ein Krankenhaus ein und stahl Blutkonserven.
Bruno war harmlos. Selbst seine Vampir-Kollegen nahmen ihn nicht ernst. Vor allem dieser Umstand machte ihn zu einem hervorragenden Informanten.
„Was willst du schon wieder?“, krächzte der Lamier ungehalten aus seinem zahnlosen Maul, ohne sich zu zeigen. Der winzige Spalt, den er in der Gruft geöffnet hatte, war gerade groß genug, dass sie miteinander sprechen konnten, andererseits aber auch zu klein, um Sonnenlicht in die Gruft zu lassen. „Ich dachte, wir sind quitt.“
„Dachte ich auch“, erwiderte Thorn. „Jetzt brauch’ ich aber wieder deine Hilfe.“
„Warum sollte ich dir helfen?“
„Vielleicht aus alter Freundschaft?“
Krächzendes Gelächter scholl ihr entgegen. Was auch immer sie beide verband - Freundschaft war nicht dabei, kein einziges Quäntchen.
„Oder weil ich dir dann einen Gefallen schulde“, gab Thorn zu bedenken. „Vielleicht lasse ich dich sogar mal bei mir naschen ...“
„Damit ich mir die Fresse verätze wie dein rotäugiger Freund?“
Inzwischen wusste also auch er davon. Fast hatte sie damit gerechnet, obwohl es nur drei Personen gab, die davon wussten: Rotauge, seine Geliebte und Thorn selbst. Einer musste geredet haben, und Thorn konnte mit Bestimmtheit sagen, sie war es nicht gewesen.
„Sag mal ...“ Brunos Stimme klang unerwartet neugierig. „Stimmt die Story?“
„Dass Vampire mein Blut nicht vertragen? Zumindest scheint es so.“ Leger lehnte sie sich gegen den Obelisken. „Wo hast du’s gehört?“
„Man erzählt es sich“, wich er aus. „Man sagt sogar, du hättest es mit dem Ersten aufgenommen.“
Sie stutzte. „Der Erste?“
„Der Kerl, den du Rotauge nennst.“
„Inzwischen dürfte seine Visage aber wieder geheilt sein.“
„Darauf kommt es nicht an“, wiegelte Bruno ab. „Er hat dich gebissen, und du hast dich nicht verwandelt. Du hast sogar überlebt. Du kannst stolz auf dich sein.“ Er meinte das so ernst wie selten zuvor etwas.
„Weißt du, dass
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