Thorn - Die letzte Rose
Spurensicherung auf dem Bürgersteig im Kauseler Weg gefunden hatte, war für sie bestimmt. Nicht sehr originell, musste sie sich eingestehen; eine klassische Spur, wie sie auch Humphrey Bogart in einschlägigen Filmen gern genutzt hatte und die von ungezählten Epigonen-Filmen bis über den Rand des Erträglichen wiederholt worden war.
Andererseits konnte sie es sich nicht leisten, wählerisch zu sein.
BLUE MOON stand in weißen, blutverschmierten Lettern auf dem schwarzen, leeren Streichholzbriefchen. Im Hintergrund leuchte das volle Rund des Mondes über eine nächtliche Silhouette von Köln: Die beiden charakteristischen Türme des Doms waren unübersehbar, ebenso Groß St. Martin.
Obwohl sich die Frage aufdrängte, was ein Souvenir aus einer Kölner Bar ausgerechnet hier verloren hatte. Keine Frage, die sogenannte ‚Toskana Deutschlands‘ war ein Anziehungspunkt für zahlreiche Touristen. Weshalb hätten sich nicht einige Urlauber aus dem Heiligen Köln hierher verirren sollen?
Doch Thorn wusste es besser. Das BLUE MOON war ihr bekannt, ohne freilich je einen Fuß hineingesetzt zu haben, jedenfalls nicht nachts.
Überwiegend verkehrten dort einschlägige Kreise der hiesigen Unterwelt zusammen mit Vampiren, Schwarzmagiern, Lykanthropen und was das Schattenreich sonst noch an Abschaum zu bieten hatte und sich gelegentlich gern zu einem Plausch bei Bloody Marys traf. Sucker-Meister würde man dort allerdings vergeblich finden, die duldeten nur ihre eigenen Vasallen in der Nähe, und die wiederum waren ihrem Herrn viel zu ergeben, um auch nur den geringsten Gedanken an Zerstreuung zu hegen.
Dies war einer der maßgeblichen Gründe, weshalb es sich die ROSE niemals zur Aufgabe gemacht hatte, dieses Nest auszuräuchern, und auch Thorn sah keinen Anlass dazu.
Außerdem hatte man einen inoffiziellen Pakt mit Johannes Jules, dem Besitzer des BLUE MOON geschlossen. Eigentlich ein ganz netter Bursche, dessen große Klappe noch jeden Sympathie für ihn hatte finden lassen. Dies hatte auch Thorn schon zu spüren bekommen. Bei mehreren Gelegenheiten hatte sie ihn getroffen und bei einer davon sogar das schwarze T-Shirt mit dem Signet seiner Pinte bekommen, ohne es freilich je angezogen zu haben. Wäre auch zu grotesk gewesen, auf Vampirjagd zu gehen und gleichzeitig Werbung für eine Vampir-Bar zu machen. Wenn auch nicht ohne Reiz ...
Er mochte die Sucker nicht. Angeblich seien die schlecht fürs Geschäft und würden mehr Ärger als Umsatz machen. Diese Meinung konnte Thorn akzeptieren, nicht jedoch seinen Wunsch, irgendwann vielleicht selbst freiwillig zum Vampir zu werden, war ihr außerordentlich suspekt. Anscheinend faszinierte ihn die Vorstellung von einem ewigen Leben ohne Falten, Krankheiten, Diabetes, Brille und Arterienverkalkung, wie so viele Menschen auch, die nur einen Bruchteil der wahren Geschichte der Vampire kannten. Obwohl dieses Argument bei ihm nicht galt, hielt er an dieser absurden Idee fest, ohne dass er sie je realisieren würde: Jules war überzeugter Vegetarier.
In einer Bar wie dem BLUE MOON, in der sich so manches Geschöpf der Nacht eben diese um die Ohren schlug, hörte man auch mehr als anderswo. Dinge, die meist hinter verschlossenen Lippen blieben, doch echte Bloody Marys lösten selbst Vampirzungen. Oft handelte es sich dabei nur um Gerüchte, doch ebenso oft erwiesen die sich zumindest im Kern als wahr.
Aber das durfte seine Kundschaft natürlich nicht wissen. Obwohl die Sucker unter ihresgleichen nicht gut gelitten waren, war man doch von ähnlicher Natur. Es war also angebracht, Jules wirklich nur dann zu kontaktieren, wenn ihr das Wasser nicht nur bis zum Hals stand, sondern darüber hinaus.
Nur von Rotauge hatte er bislang nichts gehört, jedenfalls nichts Konkretes. Geschweige denn ihn gesehen. Rotauge schien ein Phänomen zu sein. Niemand kannte ihn, niemand schien ihn je gesehen zu haben, und doch war er überall und nirgends.
Konnte Thorn diesem vagen Hinweis genug Gewicht beimessen, um nach Köln zu fahren? Die Zeit drängte; niemand konnte auch nur erahnen, was man mit Susanna vorhatte. Thorn wusste noch nicht einmal, ob die Freundin noch am Leben war.
Ihr blieb gar keine Wahl. Keine Stunde, nachdem sie den Kauseler Weg in Heitersheim erreicht hatte, war sie bereits auf dem Weg in die Domstadt am Rhein.
*
FUNERIBUS AGRIPPINIENSIUM SACER LOCUS, las Tatjana Thorn, als sie vor dem Friedhof Melaten stand.
Für die Toten Kölns geheiligte Stätte.
Ein wenig
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