Thorn - Die letzte Rose
ging hinaus. Sowohl die Vampirin als auch Jules schienen darüber nicht besonders unglücklich zu sein, jedenfalls hielt keiner von beiden sie auf.
*
Wo hätte sie eine Gefangene untergebracht? fragte sich Thorn, nachdem sie die Küchentür hinter sich verschlossen hatte.
Entweder in einem Turm oder im Keller. Da dieses Gebäude zwar einem Schloss ähnelte, jedoch keinen Bergfried hatte, blieb nur eine Möglichkeit übrig.
Ihre Aufmerksamkeit ließ um keinen Deut nach, sondern nahm noch zu, während sie scheinbar ziellos in der Parterre herumschlenderte. Tatsächlich suchte sie nach einem Zugang zum Keller. Sie musste Acht geben. Obwohl sie bei de Bors offenbar einen Stein im Brett hatte, hieß es, höllisch aufzupassen, denn dieses Wohlwollen konnte sich binnen eines Atemzugs in Luft auflösen. Besonders wenn die Vampirin erfuhr, wer Teil ihrer kleinen Armee geworden war.
Am Speisesaal ging sie vorüber und bog von dort in einen kleinen Flur, an dessen Ende eine einsame Tür lag. Jeden ihrer Schritte wog sie sorgfältig ab, bemüht, möglichst kein Geräusch zu verursachen. Wie nebensächlich glitt ihr Blick dabei auf ihre Uhr am Handgelenk: Bald setzte die Dämmerung ein. Dann wurde aus den etwa zwei Dutzend schlafenden Männern und Frauen im ersten Stock Vampire und einem normalen Menschen etwa so überlegen wie Bill Gates einem Brückenpenner.
Da heute Nacht Frau Luna in ihrem vollen Rund glänzte und die Erde in ihr silbernes Licht tauchte, bedeutete das außerdem, die Mondvampire strotzten fast vor Energie.
Keine sonderlich angenehme Vorstellung, es mit einem ganzen Pack aufzunehmen. Trotzdem war sie willens, das Risiko in Kauf zu nehmen, solange sie eine Chance bekam, Rotauge in die Finger zu bekommen.
„Hey, du da!“
Thorns Herzschlag setzte für einen Moment aus und sie blieb jäh stehen, als sie angesprochen wurde. Nein, nicht angesprochen. Erst eine halbe Sekunde registrierte sie, es war lediglich ein Flüstern gewesen.
Ihre Rechte wanderte zum Schwert, bereit, sich ihrer Haut zu erwehren. Zugleich wandte sie sich um. Ganz langsam, absolut ruhig und innerlich doch angespannt wie ein Pfeil, der von der Sehne jagen wollte.
Timok stand hinter ihr. Der hatte ihr gerade noch gefehlt.
„Suchen Sie schon wieder nach der Küche, Signorina?“, wollte der Hüne wissen.
Schon wollte sie die Klinge ziehen, da machte etwas in seiner Stimme Thorn stutzig. Er klang nicht länger so selbstgerecht wie bei ihrer ersten Begegnung. Außerdem siezte er sie, wie es unter Mondvampiren völlig unüblich war.
Und er nannte sie ‚Signorina’ ...
„Na?“ Ein breites Grinsen erschien auf seiner Miene, als wolle er die Ritterin fragen, ob sie endlich verstanden hatte.
Als noch immer nicht die erwünschte Reaktion von ihr folgte, hob er sein Hemd und entblößte seinen nackten, haarigen Bauch, der frappierend an einen Neandertaler erinnerte.
Sein Bauch war allerdings nicht völlig nackt. Der Söldner trug im Nabel ein Piercing. Statt eines Schmucksteins befand sich darin jedoch ein Amulett, von dem es durch seines nun schon drei in diesem Gebäude gab.
Scheinbar war es hier Mode, sein wahres Aussehen zu verbergen.
„Billy the Kid?“, stieß sie perplex hervor. Glücklicherweise gab es ringsherum keine Spiegel, in denen sie ihr verdutztes Gesicht hätte sehen können. „Du?“
„Der Prokurator bekommt diese Dinger offenbar en gros“, grinste Philip Cesaro, Susanna Sinclairs Sohn, Schweizer und Knappe der ROSE.
„Was zur Hölle hast du hier verloren?“
„Ich dachte, ein bisschen Rückendeckung könnte nicht schaden.“
Noch immer war Thorn verwirrt, konnte sie nicht glauben, dass sich der Gun-Man ebenfalls hier eingeschlichen hatte, noch dazu ohne ihr Wissen. „Was ist mit dem echten Timok?“
„Unfriede seiner Asche. Ich hab ihn mir geschnappt, als er letzte Nacht Zigaretten holen wollte.“ Sein triumphierendes Grinsen wurde noch breiter als ohnehin, während er sein Hemd wieder hinab zog. „Das zum Thema ‚Rauchen kann tödlich sein’.“
„Dann hast du mich also vorhin so zusammengeschissen?“
„War leider nötig, weil de Bors in der Küche alles mithören konnte.“
„Fast hätte ich dich gekillt.“
„Berufsrisiko“, zuckte er mit den Schultern. „Irgendwie wäre ich schon ausgewichen.“
„Wo ist deine Mutter?“, versuchte sie zum Wichtigsten zurückzukehren.
„Unten im Keller. Ist aber nicht ansprechbar, man hat sie wohl unter Drogen gesetzt und ruhig gestellt.
Weitere Kostenlose Bücher