Thorn - Die letzte Rose
einer Verrückten angeschlossen.“ Sie seufzte. „Dabei ist mein Plan hieb- und stichfest. Nur: Selbst wenn ich alle Steine der Welt besitzen würde - ich könnte ihre Macht nicht nutzen.“
„Aber jemand anders kann es?“, hakte Thorn nach, ohne aufzusehen. Vordergründig widmete sie sich dem duftenden Getränk in der Tasse. Tatsächlich war sie jedoch hellwach.
„Ja, die Ersten. Ich kenne einen von ihnen. Sehr gut sogar. Um ehrlich zu sein, er hat mich zu dem gemacht, was ich bin.“
Thorns Herzschlag wurde schneller. Sie wusste, von wem die Rede war: Rotauge!
„Sprechen wir von dem einäugigen Albino?“, forschte sie nach.
„Er besitzt mehrere Steine, seine Macht ist groß“, bestätigte die Vampirin tonlos. „Ich will ihn für meine Ziele gewinnen. Zusammen mit ihm und euch ...“ Den Rest ließ sie offen.
„Du willst also gar nicht Herrscherin der Welt werden, sondern diesem ... Ersten“ - es fiel Thorn schwer, ihn nicht ‚Rotauge’ zu nennen - „die Welt zum Geschenk machen.“
„Eine Welt, in der wir direkt hinter ihm an der Spitze stehen!“ De Bors klang enthusiastisch. „Gegen ihn hat ohnehin keiner von uns eine Chance. Warum also sich nicht mit ihm verbünden?“
„Und du meinst, er lässt sich darauf ein?“
„Ich meine es nicht nur, ich weiß es“, gab sie zurück. „Das Angebot ist zu verlockend für ihn. Außerdem habe ich noch eine kleine Aufmerksamkeit für ihn, eine Angehörige der ROSE. Einige vom Pack haben sie vor ein paar Tagen entführt. Ist zwar nur die Witwe eines Knappen, aber er wird sie als Zeichen des guten Willens annehmen. Bei jemandem von der ROSE kann er nicht widerstehen.“
„Diese Frau ... ist sie hier im Gebäude?“ Diese Frage zu stellen fiel Thorn schwer, sie wollte sich nicht verraten.
„Ja natürlich ... Weshalb fragst du?“, kam es erwartungsgemäß misstrauisch zurück.
„Weil ich die ROSE kenne. Die vergisst ihre Leute nicht.“
„Keine Sorge“, wischte de Bors ihre Bedenken salopp hinweg, „die haben nicht die geringste Ahnung, wer dahinter steckt. Außerdem ist es ja nur bis heute Nacht. Vollmond. Dann trifft der Erste hier ein.“
*
Fast fünfzehn Jahre waren seit jener Nacht vergangen, in der Thorns Bruder Heiko einen vermeintlichen ‚Kumpel’ nach Hause mitgebracht hatte. Ein merkwürdiger Bursche aus der Gothic-Szene, der auch Heiko angehörte. ‚Zum Essen’, wie es hieß. Doch dieser ‚Kumpel’ hatte nur getrunken: das Blut ihrer Eltern ...
Meditativ langsam fuhr Thorns Taschentuch über den blanken Stahl des Schwerts. Sie musste nachdenken, war hin- und hergerissen zwischen Gefühl und Verstand.
Ihr Verstand sagte, nein, er schrie regelrecht danach, die Gunst des Tages auszunutzen, das Palais nach Susanna Sinclair durchzukämmen, sie zu befreien und in Sicherheit zu bringen. Nur deshalb hatte sie sich hier eingeschlichen, nur aus diesem einen Grund. Mondvampire wurden erst bei Einbruch der Dunkelheit zu Bestien; Thorn hätte die besten Karten gehabt, sich notfalls freizukämpfen, obwohl viele ihrer Gegner auch menschlich als erfahrene Kämpfer nicht zu unterschätzen waren.
Mittlerweile war der Fall jedoch eskaliert.
Jetzt wusste sie, kommende Nacht würde Rotauge hier eintreffen.
Schrie Thorns Verstand, so brüllte ihr Gefühl mit der Raserei eines Rudels tollwütiger Wölfe.
Susanna war eine Freundin. Wie viele liebgewonnene Menschen hatte Thorn schon beerdigt? Sie wusste es nicht. Sie wusste lediglich, sie wollte nicht auch noch an Susannas offenem Grab stehen und eine dämliche Schaufel Erde hinab fallen lassen, als könne man es kaum erwarten, dass der Tote von sechs Fuß Erde überhäuft war.
Andererseits war die Gelegenheit günstiger denn je. Eine solche Chance, Rotauge vom Antlitz der Erde zu tilgen, würde sich ihr vielleicht niemals wieder bieten.
All die Zeit hinweg war sie von falschen Umständen ausgegangen, erkannte sie. Das Streichholzbriefchen des BLUE MOON, das sie am Ort der Entführung, in Heitersheim, gefunden hatte, war nicht für sie dort platziert worden; vermutlich hatte es einer der Kidnapper nur weggeworfen, nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte. Thorn sollte nicht nach Köln in die berühmte Falle gelockt werden, von der sie ausgegangen war – auch gut! Trotzdem hatte sie das Richtige getan.
Das Glück des Tüchtigen … Oder auch nicht.
Insgeheim schüttelte sie den Kopf. Wenn sie tatsächlich so tüchtig gewesen wäre, wäre Rotauge schon längst nur noch
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