Thorn - Die letzte Rose
schwersüßen Herbstnacht führten seine Beine Philip Cesaro geradewegs durch die engen, verwinkelten Gassen der Donaumetropole Wien.
Wo genau er sich befand - er konnte es nicht sagen. Wohl irgendwo am Stadtrand, schätzte er. Schon seit geraumer Zeit wusste er es nicht. Jedenfalls waren weder von der Hofburg, noch vom Stephansdom und erst recht von der Donau nicht das Geringste zu sehen. Auch das charakteristische Riesenrad des Praters verbarg sich irgendwo in der Anonymität der nächtlichen Großstadt, obwohl dem Knappen momentan nicht der Sinn nach einigen Runden stand.
Ihm fehlte sogar die Zeit, nach Straßenschildern Ausschau zu halten und sich daran zu orientieren. Wozu auch? Jedes Quäntchen Aufmerksamkeit war allein auf ein Ziel gerichtet: überleben! Dazu musste ihm erst einmal die Flucht gelingen! Für alles andere fehlten ihm sowohl die Kraft, als auch die Konzentration.
Schmutzig kleine Häuser in simplem Behelfs-Nachkriegsdesign zu beiden Seiten flankierten die schmale Gasse des Wiener Vororts. Eng kauerten sie sich aneinander wie frierende Greise in einer sternklaren Frostnacht, die sich gegenseitig wärmten. Auch hier hatte man damals angesichts von Flüchtlingen und Ausgebombten offenbar rasch viel Wohnraum schaffen müssen, dementsprechend sah man den Häusern diese Eile auch an.
Flüchtlinge ... geisterte es ihm durch den Kopf, während er versuchte, das Stakkato seiner Schritte nicht langsamer werden zu lassen.
Auch er war in jener Nacht auf der Flucht, wenn auch nicht vor der herannahenden Roten Armee. Fast hätte er sich gewünscht, ‚nur’ die Russen wären ihm auf den Fersen gewesen. Oder noch besser: ein Stamm Sioux wie in den Western-Filmen, die er so liebte und die ihn so sehr geprägt hatten. Irgendwie wäre er mit den Rothäuten schon zu gekommen, irgendwie hätten die mit sich verhandeln lassen.
Seine Verfolger ließen hingegen nicht mit sich reden!
Und besiegen konnte er sie auch nicht. Erst recht nicht allein.
Nirgendwo entdeckte er Hilfe. In keinem Fenster, an dem er vorbei hastete, brannte Licht. Wohin sein nervöser Blick auch huschte - überall nur Phlegma, Apathie und tiefer Schlaf. Niemand, der ihm Asyl und Schutz bieten konnte. Zu dieser nachtschlafenden Zeit war kein ‚normaler’ Mensch unterwegs. Höchstens einsame Zecher und Nachtgeschöpfe, jedoch auch nicht hier und nicht mitten in der Woche. Die Sauftouren hob man sich fürs Wochenende auf, wenn man am nächsten Tag ausschlafen konnte, und wenn, dann ging man in einen der großen Schuppen im Zentrum.
Jetzt waren nur Vampire unterwegs.
Und Leute wie Cesaro, die es auf sie abgesehen hatten.
Selbst wenn er in seiner Verzweiflung lauthals gebrüllt oder an eine der Türen gehämmert, die halbe Straße aufgeweckt hätte - niemand hätte geöffnet. Man wusste nie, in welche Scherereien man sich dadurch brachte. Vielleicht ein entflohener Häftling, vielleicht auch ein abtrünniges Mitglied der Jugo-Mafia, hinter dem ein Killerkommando her war und das nicht lange fackelte, wenn es um die Liquidierung von Zeugen ging ... Also besser wie die legendären drei Affen nichts gesehen, nichts gehört und nichts gesagt.
Gleichzeitig wusste er aber auch, hätte ihm jemand geöffnet, es hätte ihm bestenfalls eine kurze Verschnaufpause gewährt und ihn nicht wirklich gerettet. Dadurch hätte er nur seinen Retter mit in Gefahr gebracht.
Oder sollte er es doch versuchen? Hoffend, dass jemand die Gendarmerie holte, die den nächtlichen Störenfried in seine Schranken verweisen sollte? Auch diesen Gedanken verwarf er sofort wieder. Dadurch wären nur die Polizisten ins Fadenkreuz seiner Jäger geraten. Auch das durfte er nicht zulassen, die Polizisten wären leichte Beute für sie gewesen. Ein Mitternachtssnack, sozusagen ...
Man war ihm dicht auf den Fersen. Wann immer er kurz verharrte um tief durchzuatmen, meinte er, flinke Schritte aus einer der angrenzenden Gassen zu vernehmen. Schritte, viel schneller als ein Mensch laufen konnte. Dann überwand Cesaro seinen inneren Schweinehund, der nicht anderes wollte als auszuruhen, und lief weiter, obwohl jede Faser in ihm danach verlangte, stehen zu bleiben und sich dem Unvermeidlichen zu stellen.
Sie würden ihn ohnehin finden, früher oder später. Dann war es um ihn geschehen. Er zögerte es nur hinaus, weil er absurderweise auf ein Wunder hoffte. Doch ein Wunder würde ihm verweigert werden. Wo immer er sich verkroch, die Vampire würden ihn finden mit ihren empfindlichen
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