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Thorn - Die letzte Rose

Thorn - Die letzte Rose

Titel: Thorn - Die letzte Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kastenholz
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ruhten ihre Blicke wortlos aufeinander. Immer und immer wieder stellte sich Thorn die eine, die alles entscheidende Frage nach der Wahrheit.
    Andererseits: Mit jeder bangen Sekunde, die Ryuki ihr Rede und Antwort stand, in der sie nicht von ihr angefallen wurde, waren die Zweifel größer geworden, nahmen schließlich ihr gesamtes Denken gefangen, bis sie nicht anders konnte, als den letzten, den entscheidenden Schritt zu wagen.
    Sie wusste, Vampire konnten sich zwar mitunter wie Menschen benehmen. Sobald sie jedoch Blut sahen, war es um ihre Beherrschung geschehen, verfielen sie in einen Blutrausch, in dem nur noch die Mordlust regierte.
    Gemächlich zog Thorn ihren rechten, fingerlosen Handschuh aus. Ganz langsam, ohne Eile und ohne Ryuki aus den Augen zu lassen. Darunter erschien ihre bandagierte Handfläche. Auch die Binden wickelte sie ab, bis der hässliche, rote Fleck ihres Stigmata darunter erkennbar wurde, nahezu identisch mit dem in ihrer anderen Hand. Ein Mal, das geradewegs durch ihr Fleisch ging, man konnte hindurchsehen oder auch einen Zahnstocher durchschieben, ohne auf Widerstand zu stoßen. Wenn man allerdings versehentlich das Fleisch berührte, kam Thorn fast um vor Schmerz.
    Das Stigmata hatte nicht die Form eines Kreuzes, das hätte Thorn gerade noch gefehlt. Ihr Bedarf an Wunder war schon allein durch die Existenz der Wundmale und den Umstand, dass sich die Wunden groteskerweise nicht entzündeten, mehr als befriedigt. Darüber hinaus bluteten sie nahezu unentwegt ein wenig; glücklicherweise nicht ausgerechnet an Ostern.
    „Der Prokurator behauptet, mein Blut sei etwas Besonderes“, stellte Thorn fest. „Ob das wirklich so ist, weiß ich nicht. Der letzte Vampir, der es sich zu Gemüte geführt hat, hat es jedenfalls bereut, und seitdem hat es keiner mehr versucht.“
    „Rotauge?“ Die Japanerin hob fragend eine Braue, und die Ritterin sah bestätigend zu Boden.
    Schweigend hielt sie Ryuki die offene Hand hin, ballte sie zur Faust und öffnete sie wieder. Ein Tropfen dickroten Blutes trat aus der Wunde, legte sich um die Ränder und schien für einen flüchtigen Moment das fahle Licht der Petroleumfunzel zu reflektieren.
    Ryuki erwiderte nichts - doch sie verstand.
    Mehr noch, sie war willens für den größten Vertrauensbeweis, legte ihr Dasein in die Hände der Schwester, die womöglich zur erbittertsten Feindin geworden war und es auf ihr Leben und ihre Seele abgesehen hatte.
    Die Vampirin fuhr mit ihrem Zeigefinger über das Stigmata und wischte den Tropfen behutsam ab.
    Ohne Zögern, wie das Selbstverständlichste der Welt, als habe sie ein reines Gewissen, leckte sie ihre Fingerkuppe ab, benetzte ihre Zunge mit der sämigen Flüssigkeit, von der manche Würdenträger im Vatikan der Ansicht waren, es handele sich um gesegnetes, vielleicht sogar heiliges Blut.
    Keine Reaktion. Nicht die geringste.
    Weder begann es in Ryukis Mund zornig zu qualmen, kein Gestank von verbranntem Fleisch verströmte, und auch kein gequälter Schmerzensschrei, der von ihren Lippen gellte. Offenbar wurde sie von dem Blut nicht verletzt. Und sie ging auch nicht Thorn nicht an die Kehle, versuchte nicht, ihr den Hals umzudrehen oder ihre elfenbeinernen Zähne hineinzuschlagen.
    Stattdessen schloss sie die Augen und verzog ein wenig die Miene. Leichtes Zucken tauchte in ihrem Mundwinkel auf. Schließlich schlug sie wieder die Augen auf und sah die Weißhaarige groß und durchdringend an.
    „Asiatisches Blut der Gruppe B schmeckt eindeutig besser.“
    Abrupt klärte sich Thorns Miene. Ein Felsbrocken schien von ihrem Herzen zu fallen, ein ganzer Loreleyfelsen, als sie erleichtert ihre Arme um die geliebte Schwester schloss und fühlte, wie sich Ryukis Arme ebenso entspannt um ihren Rücken legten.
    Sie hatten sich gefunden, scheinbar verloren und trotz aller Widrigkeiten zurückgefunden. Die Erlösung zauberte nicht nur ein befreites Lachen auf Thorns Gesicht, sondern ließ auch ihre Augen vor Freudentränen feucht schimmern.
     
    *
     
    Der frenetisch tobende Sturm hatte sich kurz nach Mitternacht ein wenig gelegt. Immer noch tobte er mit Urgewalt über dem Meer, sandte seine Macht tentakelartig aus und war nicht willens, sich jemals zurückzuziehen. Die Wolken waren größtenteils jedoch weiter gezogen.
    Nicht nur am Himmel, sondern auch von Thorns Gemüt.
    Deutlich hatten sich die Wolken in den letzten Stunden gelichtet, und mitunter blitzte hoch über ihnen sogar ein strahlend-magischer Silbermond auf.

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