Thunderhead - Schlucht des Verderbens
Smithback.
Nora nahm ihr Funkgerät zur Hand. »Enrique, hier spricht Nora. Können Sie mich hören?«
»Laut und deutlich«, kam nach ein paar Sekunden die Antwort.
»Wo sind Sie gerade?«
»In dem Tunnel hinter den Kornspeichern.«
»Und was tun Sie dort?«
Aragon zögerte einen Moment mit der Antwort. »Das sollten Sie sich besser selbst ansehen. Kommen Sie doch zu mir, und zwar von der Westseite her.«
Nora ging um den Abfallhaufen herum in Richtung hinterer Turm. Diese Geheimniskrämerei ist typisch für Aragon, dachte sie. Warum kann dieser Mann einem nur keine klare Antwort geben? Als sie an dem Turm vorbei war, stieß sie auf den engen Durchgang, der hinter den Kornspeichern an der Rückwand der Höhle verlief. Hier war es dunkel und kühl, die Luft roch nach Sandstein und Rauch. Der gewundene Durchgang führte zunächst an zwei Kornspeichern vorbei, bis er schließlich unter der Erde verschwand. Dieser tunnelartige Gang zählte ebenfalls zu den Besonderheiten, die es nur in Quivira gab. Seine Decke war so niedrig, dass man nur auf allen vieren vorwärts kam. Nachdem Nora ein Stück weit durch die Dunkelheit gekrochen war, sah sie vor sich Aragons Licht.
Bei ihm angelangt, bemerkte sie, dass sie sich wieder aufrichten konnte. Der Anblick, der sich ihr bot, ließ ihr den Atem stocken: Aragon hockte mitten in einem riesigen Haufen von menschlichen Gebeinen, die vom Schein der Gaslaterne gespenstisch beleuchtet wurden. Er hatte sich eine Juwelierlupe in ein Auge geklemmt und hielt einen Knochen in der Hand, den er gerade mit einer Schublehre vermaß. Neben ihm lagen die - hier unnötigen - Instrumente, die man sonst braucht, um menschliche Überreste aus der sie umgebenden Erde zu lösen: Bambusspäne, Holzpflöcke, Rosshaarpinsel. Das Zischen der Gaslaterne unterbrach als einziges Geräusch die Stille.
Als Aragon Nora hörte, blickte er auf. Sein von unten beleuchtetes Gesicht kam ihr wie eine unergründliche Maske vor.
»Was ist das hier?«, fragte Nora. »Eine Art Katakombe?«
Aragon ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Erst nachdem er den Knochen vorsichtig auf einen Haufen zurückgelegt hatte, sagte er mit tonloser Stimme: »Keine Ahnung, was das zu bedeuten hat, aber es ist das größte Beinhaus, das ich je gesehen habe. Ich habe gehört, dass man Ähnliches bei den Ausgrabungen steinzeitlicher Stätten in der Alten Welt gefunden hat, aber noch nie in Nordamerika und schon gar nicht in diesen Ausmaßen.«
Nora betrachtete den Knochenhaufen. Ganz oben lagen diverse komplette Skelette, darunter befand sich eine dicke Schicht durcheinander geworfener, mehrmals gebrochener Knochen, zu denen auch viele eingeschlagene Schädel zählten. In den Steinwänden an der Rückseite des Tunnels sah Nora Dutzende von Löchern, aus denen Stücke verrotteter Holzbalken ragten. »Auch ich habe so etwas noch nie gesehen«, sagte sie leise.
»Eine solche Bestattungspraxis ist bisher unbekannt«, erklärte Aragon. »Meiner Meinung nach haben wir es hier mit Knochen aus zwei verschiedenen Perioden zu tun: Die älteren, die den weitaus größeren Teil darstellen, wurden offenbar achtlos durcheinander geworfen, während die kompletten Skelette darüber aus einer jüngeren Periode stammen dürften. Ich vermute allerdings, dass auch diese nicht bestattet wurden, sondern dass man sie ziemlich hastig auf die bereits existierenden Knochenhaufen gelegt hat.«
»Haben Sie denn an den Knochen Spuren von Gewalt feststellen können?«
»Nicht an den kompletten Skeletten, die ganz oben liegen.«
»Und an den Knochen darunter?«
Aragon zögerte. »Die untersuche ich gerade«, antwortete er schließlich.
Nora spürte, wie sich ein ungutes Gefühl in ihrer Magengrube ausbreitete. Sie war zwar nicht zimperlich, aber die leichenhausartige Atmosphäre des Tunnels machte ihr zunehmend zu schaffen. »Was mag das alles nur bedeuten?«, fragte sie.
Aragon blickte auf. »Eine große Anzahl gleichzeitig bestatteter Leichen deutet meistens auf eine gemeinsame Todesursache hin«, erwiderte er. »Eine Hungersnot, eine Epidemie, ein Krieg...« Er hielt inne. »Oder darauf, dass sie geopfert wurden.«
In diesem Augenblick piepste Noras Funkgerät. »Nora, hier spricht Sloane«, kam es aus dem Lautsprecher. »Hören Sie mich?«
Nora zog das Gerät aus seinem Halfter. »Ich bin gerade bei Aragon. Was gibt's?«
»Ich habe hier etwas, das Sie sich unbedingt anschauen sollten. Könnten Sie und Aragon jetzt gleich auf den Großen Platz
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