Thunderhead - Schlucht des Verderbens
Goddards Tochter reichte ihm einige Seesäcke, die im Gepäckraum hinter den Sitzen des Flugzeugs verstaut gewesen waren. Dann warf sie die Luke zu, kletterte hinüber auf das Floß und gab dem Kopiloten ein Zeichen. Während Holroyd mit Sloane Goddard durch das Labyrinth aus Baumstämmen zurückruderte, machte das Flugzeug kehrt, begann zu beschleunigen und hob wieder ab. Nora wandte die Augen von der rasch kleiner werdenden Maschine ab und musterte die junge Frau.
Sloane Goddard saß im hinteren Teil des Floßes und unterhielt sich mit Holroyd. Sie trug eine lange Fliegerjacke aus Leder, Jeans und enge Stiefel. Ihre Haare waren zu einem klassischen Pagenkopf geschnitten, dessen Anachronismus Nora fast dekadent anmutete. Die Frisur erinnerte sie an Modezeitschriften der Zwanzigeijahre und verlieh Sloane Goddard das Aussehen einer Figur aus den Romanen von F. Scott Fitzgerald. Ihre mandelförmigen Augen und ihr sinnlicher Mund, um den ein leises, fast ein wenig höhnisch wirkendes Lächeln spielte, gaben ihrem Gesicht zusätzlich einen Hauch von Exotik. Sloane schien Mitte zwanzig zu sein, und Nora, die nicht viel älter war, musste sich mit einem Anflug von Neid eingestehen, dass Dr. Goddards Tochter eine der schönsten Frauen war, die sie je gesehen hatte.
Als das Floß an den Strand knirschte, sprang Sloane geschwind an Land und kam mit energischen Schritten auf das Lager zu. Das war nicht das dürre Society-Mädchen, das Nora erwartet hatte, sondern eine gut gebaute junge Frau, deren Bewegungen eine agile, geschmeidige Kraft ausstrahlten. Sloane war braun gebrannt, schien vor Gesundheit zu strotzen und strich sich ihr schwarzes Haar mit einer Geste aus der Stirn, die unschuldig und verführerisch zugleich war.
Mit einem breiten Grinsen kam sie auf Nora zu, zog ihre Lederhandschuhe aus und streckte ihr die Hand entgegen. Die Haut fühlte sich kühl und weich an, aber ihr Griff war erstaunlich fest. »Sie müssen wohl Nora Kelly sein«, sagte sie mit einem fröhlichen Augenzwinkern.
»Stimmt«, antwortete Nora mit einem leisen Seufzer. »Und Sie sind bestimmt Sloane Goddard. Die verspätete Sloane Goddard.«
Das Grinsen auf dem Gesicht der Frau wurde noch breiter. »Tut mir Leid, dass ich es so spannend gemacht habe, aber ich werde Ihnen später alles erklären. Jetzt würde ich gerne den Rest Ihrer Gruppe kennen lernen.«
Nora, die Sloanes selbstsicherer Befehlston zunächst gehörig erschreckt hatte, entspannte sich wieder, als diese von »Ihrer Gruppe« sprach. »Klar doch«, sagte sie. »Mit Peter Holroyd haben Sie ja schon Bekanntschaft gemacht.« Sie deutete auf den Kommunikationsspezialisten, der gerade mit Sloanes restlichem Gepäck zum Lager kam, und drehte sich um in Richtung Aragon. »Das ist...«
»Ich bin Aaron Black«, drängte sich Black vor und trat mit ausgestreckter Hand auf Sloane zu. Dabei zog er den Bauch ein und machte seinen Rücken gerade.
Sloane grinste ihn an. »Sie sind also der berühmte Geochronologe. Oder sollte ich lieber der gefürchtete Geochronologe sagen? Ich erinnere mich noch gut an Ihren Vortrag auf dem letztjährigen Treffen der Society for American Archaeologists, bei dem Sie den Kollegen Leblanc wegen seiner falschen Datierung der Ausgrabungen in der Chingadera-Höhle zur Schnecke gemacht haben. Ich schätze, dass der arme Mann seitdem nicht mehr in den Spiegel schauen kann.«
Die Erinnerung daran, wie er einen anderen Archäologen heruntergeputzt hatte, bereitete Black sichtlich Wohlbehagen.
Sloane wandte sich von ihm ab. »Und Sie sind bestimmt Enrique Aragon.«
Aragon nickte. Sein Gesicht hatte denselben unergründlichen Ausdruck wie tags zuvor.
»Mein Vater hält große Stücke auf Ihre Arbeit. Glauben Sie, dass wir in der Stadt menschliche Überreste finden werden?«
»Weiß ich nicht«, antwortete Aragon knapp. »Die Begräbnisstätten von Chaco Canon hat man bis heute noch nicht entdeckt, andererseits kennen wir Orte wie die Mumienhöhle mit Hunderten von Bestatteten. Aber bestimmt wird es Tierknochen geben, und die will ich auf jeden Fall untersuchen.«
»Ausgezeichnet«, sagte Sloane und nickte.
Nora blickte sich um und wollte die Vorstellungsrunde so rasch wie möglich beenden, aber zu ihrem Erstaunen hatte sich Roscoe Swire von der Gruppe entfernt und machte sich bei den Pferden zu schaffen.
»Sind Sie Roscoe Swire?«, rief Sloane ihm nach. »Mein Vater hat mir von Ihnen erzählt, aber ich glaube nicht, dass wir uns schon kennen gelernt
Weitere Kostenlose Bücher