Thurner, M: Elfenzeit 18: Rache der Verbannten
aufschneiden und einen Teil deines Gehirns entfernen, damit du Ruhe vor den Geistern in dir hättest.«
»Was hast du vor?«, schrie Alebin unbeherrscht. »Warum verwirrst du mich? Ich dachte, du wolltest mir helfen?«
»Aber ja, mein Kleiner.« Der Mann schnippte mit den Fingern. Eine Baumwurzel hob sich aus der Erde und legte ihre Spitze vorsichtig in seine Rechte. Dunkler Saft träufelte auf die Handfläche. Der Fremde tunkte seine Zunge hinein – und veränderte von einem Moment zum nächsten sein Aussehen. Er wurde zum Hirsch, zwischen dessen mächtigen Geweihböden bläuliches Licht schimmerte. Sosehr Alebin der Anblick auch erschreckte – er fühlte eine besondere Anziehungskraft, die von dieser Erscheinungsform ausging.
»Was ist Illusion, was ist Wirklichkeit?«, fragte der Hirsch. Sein Maul mahlte die Worte mit Bedacht. »Wo liegen die Grenzen zwischen den Welten? Kannst du den Göttern, die dir Träume schenken, vertrauen, oder sind sie deine Feinde? Gibt es jemanden, der dich wie Vieh in eine bestimmte Richtung lenken will – oder bist du verrückt? Existiere ich bloß in deiner Einbildung?«
Der Hirsch wurde zur riesenhaften Schlange, die Schlange zum Greif, der Greif zur Maus, um gleich darauf wieder die Züge eines Mannes zu tragen.
»Hör gut zu, mein Junge«, sagte der Unheimliche bedächtig. »Während der nächsten Wochen werden wir uns mit den vermeintlichen Erinnerungen in deinem Kopf beschäftigen. Es wird nicht leicht sein, und ich werde einige Methoden anwenden, die dir nicht gefallen werden. Aber wenn du dieses Elend hinter dir lassen willst, muss es sein.«
Alebin schwieg lange. Seine Gedanken flossen nur langsam und zäh.
»Du weißt so viel über mich«, sagte er dann. »Dennoch zweifelst du an der Wahrhaftigkeit meiner Erinnerungen?«
»Weil selbst mir Grenzen gesetzt sind. Ich verlasse mich auf eine Prophezeiung, die älter als ich ist. Ich mag mich irren …« Erneut griff der Unbekannte zwischen die Äste des Baumes. Diesmal zog er eine lange, biegsame Gerte hervor, an deren Ende mehrere giftig schillernde Kügelchen saßen.
»Mein Name ist übrigens Merlin. Einst nannte man mich Gwydion, und in kommenden Jahren wird man mich Myrddin rufen.« Er deutete eine Verbeugung an. »Jetzt aber ist es an der Zeit, dass wir uns um dein vordringlichstes Problem kümmern.« Mit diesen Worten zog eine weitere, etwas kürzere Gerte aus dem Baum und reichte sie Alebin.
»Und das wäre?«
»Wir befragen deine Zieheltern, was für eine Art von Geschäft sie mit deiner Mutter abgeschlossen haben. Und dann töten wir sie.«
5 Leben im Schloss
Nadja betrat ihre Kemenate im
Turm der Frauen
, riss sich den altertümlichen Fummel vom Leib und schleuderte ihn zornentbrannt aufs Himmelbett. Eine Kiste mit wertvollem Geschmeide, das ihr Alebin zur Verfügung gestellt hatte, kippte um. Ringe, Armbänder und Ketten fielen klirrend zu Boden.
Ihre Zofe, eine alte, vertrocknete Jungfer, die wie viele Wesen im Rosen-Palast von Alebin abhängig war, stieß einen erschrockenen Schrei aus, als sie Nadja so erblickte, wie die Natur sie erschaffen hatte.
»Was ist?«, fragte sie wütend. »Hast du noch nie eine nackte Frau ohne Keuschheitsgürtel gesehen?«
Die Zofe murmelte ein Stoßgebet, legte beide Hände vor die Augen und verließ eiligen Schritts das Schlafgemach. Nadja war allein, gefangen in ihrem goldenen Käfig.
Sie warf sich aufs Bett – es war groß genug, um sie, das Kostüm und noch ein ganzes Regiment Gardesoldaten aufzunehmen – und trommelte mit den Fäusten auf die Überdecke. »Dieser Schweinepriester!«, schrie sie. »Dieser elende Mistkerl!«
Nadjas Wortschatz an Beleidigungen war im Deutschen, Englischen, Italienischen und Französischen ziemlich beachtlich und hätte ausgereicht, die nächste Stunde ohne Unterbrechung durchzufluchen. Doch schon nach wenigen Minuten brach sie abrupt ab und erhob sich von ihrem Bett.
Sie trat ans Fenster des Wohnturms. Es war – noch – verglast. Die ehedem so verspielt wirkende Fassade des Rosen-Palastes wandelte sich, auf Wunsch des neuen Herrschers. Säulengänge und Arkaden verschwanden, die allerorts beliebten Rosenhäuser aus Butzenglas und Stein machten festeren, stämmigeren Strukturen Platz. Dunkelheit hielt dort Einzug, wo früher einmal Licht gewesen war. Es wurde kälter und unfreundlicher.
Nadja blickte in einen dunkelroten Sonnenuntergang. Mehrere Möwen kreischten ihren Hunger laut in die Welt von Lyonesse hinaus, um gleich
Weitere Kostenlose Bücher